Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Fortschritt

von Erhard Crome

Die Queen weilte Anfang Mai in den USA. Anlaß war der 400. Jahrestag der englischen Kolonialisierung in Nordamerika. In ihrer Rede vor dem Parlament von Virginia in Richmond – dort lag das erste englische Kolonialgebiet in dieser Gegend – erinnerte sie auch an die Opfer. Historiker haben ermittelt, daß von den etwa 15000 Indianern, die dort lebten, durch Kämpfe mit den Kolonialisatoren, Vertreibung und Krankheiten 13500 ums Leben gekommen waren.
Der Papst hat sich inzwischen für die Kreuzzüge entschuldigt und deutsche Offizielle für die Ermordung von über 60000 Herero in Namibia – man mag über den Sinn derlei Entschuldigungen denken, was man will, in jedem Fall sind sie Ausdruck des heutigen Verständnisses von Geschichte und historischer Verantwortung.
In Richmond jedoch wurden andere Akzente gesetzt. Immerhin habe die Eroberung Nordamerikas zu einer dauerhaften Bindung an die »Werte der Demokratie« geführt, die in den USA ihre Verwirklichung gefunden hätten. In bezug auf die Opfer sagte die Königin: »Menschlicher Fortschritt entsteht allerdings selten ohne Preis.« Die schöne Geschichte der USA war also den Preis der toten Indianer wert. Nach neueren Schätzungen lebten in Nordamerika etwa zwanzig Millionen Menschen, als Kolumbus die Neue Welt »entdeckte«; innerhalb von zweihundert Jahren wurde 95 Prozent der präkolumbianischen Indianerbevölkerung umgebracht oder erlag den eingeschleppten Krankheiten. Das ist »Fortschritt«, zumindest so, wie ihn die englische Königin versteht?
Den Satz: »Menschlicher Fortschritt entsteht allerdings selten ohne Preis«, hätte auch Jossif Stalin gesagt haben können. Ein Unterschied hätte sich allerdings dort ergeben, wo es um den Inhalt jenes sogenannten Fortschritts oder um den »Preis« gegangen wäre. 95 Prozent Opfer sind eine »Preis«-Quote, die kein Diktator und Großverbrecher des 20. Jahrhunderts erreicht hat.
Insofern ist es durchaus nicht unangebracht, nach Gründen zu fragen, die wohl eher mit heutigen Umständen der Politik zu tun haben. Der Historiker Immanuel Wallerstein hat darauf verwiesen, daß die Geschichte des modernen Weltsystems, das seit Kolumbus geschaffen und dann das »moderne« kapitalistische Weltsystem wurde, eine Geschichte der Expansion, der militärischen Eroberung und ökonomischen Aneignung und Durchdringung von Europa aus ist. Nordamerika ist in diesem Sinne Teil und eigenständiger Akteur dieses Prozesses. Diese Eroberungen bedurften immer der Rechtfertigung – gegenüber den eigenen Bevölkerungen, gegenüber den »Kadern« der Kolonialverwaltung und gegenüber den unterworfenen Bevölkerungen. Das übliche Argument lautete, die Expansion habe etwas Positives verbreitet, das abwechselnd als das Wort Gottes, Zivilisation, wirtschaftliche Entwicklung, Demokratie und Menschenrechte oder als Fortschritt bezeichnet wurde.
Die ursprüngliche Figur dieser Argumentation, die bereits am Hofe Karls V. in Spanien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dann bei allen europäischen Kolonialisten benutzt wurde, war, die Europäer hätten gegenüber den »Barbaren« – und das waren alle, die die »europäischen Werte« ursprünglich nicht teilten – das Recht der Gewaltanwendung und eine moralische Verpflichtung zur Missionierung. Im 19. Jahrhundert, das sich eher als »aufgeklärt« verstand, wurden religiöse oder einfach gewaltförmige Argumente als nicht mehr ausreichend angesehen. Die europäische Entwicklung des Kapitalismus galt als die eigentliche Weltentwicklung der »Moderne«, Verkörperung der universellen Werte; europäische Kultur wurde als von Natur aus progressiv angesehen. Die Wissenschaft des »Orientalismus« lieferte nun die Argumentation, daß allen anderen Kulturen, auch der alten chinesischen, indischen oder arabischen etwas fehlte. Nur die europäischen Herren des Weltsystems waren die Bannerträger universeller Werte, während andere Kulturen als partikular und mit essentiellen Eigenheiten »belastet« galten.
Diese Position war im Kern immer rassistisch. Dazu Wallerstein: »Der Krieg gegen den Nationalsozialismus hatte dem essentialistischen Rassismus, aus dem die Nazis solch schreckliche Folgerungen gezogen hatten, seinen Glanz genommen.« Die Entwertung dieser Argumentationsfigur fiel mit dem antikolonialen Kampf der Nachkriegszeit und der Errichtung eigenständiger Staaten in Asien und Afrika zusammen. Der Westen wich auf einen wissenschaftlichen Universalismus aus, der zum Ausdruck des universalistischen Weltverständnisses der nordatlantischen Welt des weißen Mannes wurde.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden die verschiedensten Muster zur Herrschaftsbegründung wieder hervorgeholt und neu kombiniert, nochmals zugespitzt nach dem 11. September 2001. Danach wurde mit dem »Kampf der Kulturen« der Essentialismus der orientalistischen Kulturauffassung wiederbelebt: Alle Kulturen hätten jeweils einen unveränderlichen Kern, richtig modern sei nur die des Westens, und deshalb habe er nicht nur das Recht, sondern gleichsam die Pflicht, eine Weltordnung nach seinem Muster zu schaffen. Deshalb benötige man erneut auch das traditionelle abendländische Verständnis des »Fortschritts«; die Opfer seien eben die Späne, die beim Hobeln anfallen. Die Queen hat im Sinne der derzeitigen Politik der USA und des Westens das »Richtige« gesagt. Dabei verschwindet dann das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und auf Schutz der nationalen Souveränität.
Einer der lautesten Rufer nach »humanitärer Intervention« ist in Europa übrigens der Franzose Bernard Kouchner, der Gründer von Ärzte ohne Grenzen. Er hielt im März 2004 am Carnegie Council in den USA die Morgenthau Memorial Lecture zu diesem Thema und sagte: »Es gibt einen Aspekt der humanitären Intervention, der sich bei der Implementation als schwierig erwiesen hat; ich meine die Spannung zwischen der staatlichen Souveränität und dem Recht zur Intervention … Eine Methode, dieses Dilemma zu lösen, besteht darin zu sagen, daß die Souveränität der Staaten nur dann respektiert werden kann, wenn sie im jeweiligen Staat vom Volk ausgeht. Wenn der Staat eine Diktatur ist, dann verdient er die Achtung der internationalen Gemeinschaft absolut nicht.« Und der Westen entscheidet, wer denn zu den Diktatoren zählt, und »interveniert« demgemäß, gegebenenfalls unter Berufung auf »Oppositionelle« in dem Land, die er zuvor bezahlt.
Im Irak wurde der Diktator Saddam Hussein gestürzt und das Land in einen Failed State verwandelt, der jetzt Brutstätte eines hemmungslosen islamistischen Terrorismus ist. Der Krieg in Afghanistan fordert weitere Opfer aller beteiligten Länder, darunter aus Deutschland. Der Iran steht als nächster auf der Interventionsliste. Mit Rußland wird gerade seitens der EU neuer Streit angezettelt – weil es ja wieder auf eine »Diktatur« hinausläuft. Und Chávez in Venezuela gilt aus Sicht des Westens – trotz freier Wahlen im Lande – auch längst als »Diktator«.
Die »Fortschrittszeiten«, die vor aus liegen, bieten wahrlich herrliche Perspektiven. Sarkozy hat Kouchner gerade zum französischen Außenminister gemacht. Der Bushismus ist nicht mehr länger nur ein äußerer Faktor, er breitet sich unter uns aus.