Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Eine moderne Scharade

von Matthias Käther

Liebes Blättchen,
vergiß mal einen Moment die große Politik, die wichtigen kulturellen Ereignisse und die angebliche deutsche Wirtschaftmisere beziehungsweise den Aufschwung. Ich möchte Dir eine Geschichte erzählen. Denn weil in diesem Blatt in den letzten hundert Jahren einige der schönsten Geschichten standen, die in deutscher Sprache erzählt worden sind, ist dies wohl die richtige Adresse. Es ist nämlich die wunderbarste Geschichte, die ich je gehört habe.
Sie gehört wohl in den Bereich der Wandersage. Du weißt schon, diese Dinger, die Professor Brednich alle paar Jahre in gutgehenden Sammelbänden zusammenstellt: die Spinne in der Yucca-Palme, die Oma als Leiche im Teppich eingerollt, Manager mit Handy-Attrappen, all das Zeug.
Entscheidend ist, daß der Erzähler diese Geschichten nie selbst erlebt hat, er hat sie sozusagen aus dritter Quelle; die Arbeitskollegin des Schwagers vom Fischverkäufer hat wirklich und wahrhaftig …
So auch in meinem Fall. Ein befreundeter Galerist erzählt mir von einer Vernissage. Er trifft dort einen italienischen Maler. Der hat einen Freund. Was der macht? Unwichtig. Meinetwegen ein Rezensent. Der wiederum – Du kannst mir doch folgen? – hat einen alten Vater. Dieser Vater ist Erfinder. Zum Beispiel in Genua. Nein, sagen wir lieber, in Pisa. Im ehrwürdigen Pisa, wo Galilei Experimente auf dem Schiefen Turm gemacht hat. Das paßt besser. Dieser Erfinder ist schon alt und senil. Viele schöne Dinge hat er angemeldet und erfolgreich bauen lassen. Papa Francesco – nennen wir ihn einfach so – sitzt also auf der Terrasse, Tag für Tag, und dreht einen Teller in den Händen herum. Manchmal blickt er auf, schaut versonnen auf den Schiefen Turm und murmelt: »Es muß gehen, es muß doch einen Weg geben …« »Was denn«, fragt die Familie, »was knobelst du?« – »Eben«, sagt der Alte, »die Schwerkraft. Es muß doch eine Möglichkeit geben, sie aufzuheben. Es muß einfach!«
Man entgegnet ihm, das wäre ein alter Hut, da hätten Leute wie Montegolfier, Zeppelin und Lilienthal schon erfolgreich darüber nachgedacht. »No no, viel einfacher! Man könnte sie doch einfach aufheben, die Schwerkraft, ohne Tricks, alles schweben lassen, das Auto, den Dackel Giuseppe, Signore Prodi …«
Man belächelt den wunderlichen Alten. Wochenlang geht das so. Tellerdrehen, Seufzen. Aber eines Tages, sagen wir, eines Mittwochs, haut er die Faust erst auf den Tisch und dann an den schütteren Schädel und ruft aus: »Certo! Natürlich! Ich Idiot! Es ist so einfach! So unglaublich einfach! Jeder Mensch, jedes Kind hätte darauf kommen können! Es ist so simpel! Ein Wunder, daß wir tausende Jahre lang nicht geschwebt sind! Außer ein paar meditierenden Indern vielleicht, ja, die haben es vielleicht gewußt … Klar, es ist ihnen beim Meditieren eingefallen, als eine der vielen ganz einfachen Wahrheiten, die man entdeckt, wenn man die komplizierte Welt hinter sich läßt …«
Die Kinder bestürmen ihn: »Sag doch, Papa, wie geht das?« Er kramt fieberhaft nach Papier und Bleistift. »Paßt auf: Es ist doch eine bekannte Tatsache, daß alle Objekte …« Der Bleistift schwebt schon über dem Blatt, da hält er inne. »Nein«, meint Francesco dann, »das geht nicht. Es würde die Welt so sehr verändern, daß sie nicht wiederzuerkennen wäre. Für einen alten Mann wie mich eine viel zu große Verantwortung. Das werde ich aufschreiben, in einem Bankfach in der Schweiz deponieren, und nach meinem Tod macht damit, was ihr wollt. Ja, gleich morgen schreib ich alles auf.«
Aber er schreibt es nicht auf. Er geht zu Bett und entschläft selig. Die Anstrengungen der letzten Tage waren wohl zu groß. Er nimmt das Geheimnis mit ins Grab. Haareraufen bei der Verwandtschaft. Alles wird durchsucht: die Papiere, die Notizen … Nichts.
»Und«, soll der Sohn des Alten gesagt haben, »seitdem habe ich keine ruhige Minute mehr. Seit zehn Jahren grüble ich, lese Newton, Galilei, Einstein, rechne, werfe Steine in die Luft, lasse Ballons aufsteigen. Ganz einfach soll es sein, aber ich komm nicht drauf … Der Alte hat mich verrückt gemacht … Denken Sie nur … Was dies Patent wert wäre … Bill Gates wäre ein armer Mann gegen mich …«
So erzählte es mir der Galerist, ganz ernst, als eine verbürgte Tatsache und verstand gar nicht, was mich an dieser tragischen Angelegenheit so freute: Die Geschichte ist so gut, daß sie ebensoviel wert ist wie das verdammte Patent. Die große Legende vom Stein der Weisen im neuen Gewand. Und aus alter Freundschaft bekommst Du sie, liebes Blättchen, ganz umsonst.
PS: Aber, ähem, wenn du eine Idee hast …, also wir könnten ja gemeinsame Sache machen und uns das Geld teilen … Ich sitze jetzt seit zwei Wochen über Papieren, lese Newton und Galilei, Einstein, rechne, werfe Steine in die Luft … Ich bin telefonisch immer erreichbar, Tag und Nacht.