Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 30. April 2007, Heft 9

Wirtschaftliche Wellen

von Erhard Crome

Der Bundeswirtschaftsminister will wieder einmal die Steuern senken, diesmal nicht nur für die besonders Reichen, sondern damit die inländische Nachfrage steigt. Der Finanzminister dagegen möchte das Geld im Säckel halten und erstmals seit Jahrzehnten keine neuen Staatsschulden aufhäufen. Auch in Deutschland scheint mehr Produktion mehr Einkommen und Konsum der Privathaushalte zur Folge zu haben. Das heißt, es scheint das zu beginnen, was gemeinhin als Konjunktur bezeichnet wird. Die CDU interpretiert das als Ausdruck der von ihr gewollten Politik.
Spricht etwas dafür, daß das zutrifft? Bereits Bismarck beklagte sich während der langen Jahre seiner Regierung – preußischer Ministerpräsident war er seit 1862, zugleich deutscher Kanzler von 1871 bis 1890 – über die anhaltende Wirtschaftsrezession. Nimmt man eine langwellige Wirtschaftsentwicklung an, so waren er und seine Wirtschaftspolitik dafür nicht ursächlich zur Verantwortung zu ziehen: Die langanhaltende Rezession hielt bis Mitte der 1890er Jahre an.
In diesem Sinne hatte der Philosoph Peter Ruben bereits in den 1990er Jahren die Frage, wann denn der wirtschaftliche Aufschwung komme, mit: »2007« beantwortet. So sieht es jetzt in der Tat aus.
Die Theorie der Langen Wellen geht auf den sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff zurück. Er hatte sich intensiv mit diesem Problem beschäftigt und 1926 seine Theorie erstmals in deutscher Sprache vorgestellt. Da die Auffassungen Kondratieffs nicht in Stalins Konzept paßten, weil so der Plan der volkswirtschaftlichen Entwicklung anderen Einflußfaktoren unterliegen mußte, als ein »Ausschnitt des Parteiprogramms des revolutionären Proletariats« zu sein, wurden seine Forschungsergebnisse unterdrückt. Kondratieff wurde ins Lager gesperrt und schließlich erschossen. Joseph Schumpeter, einer der folgenreichsten Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, befaßte sich in den 1930er Jahren mit den industriellen Revolutionen, bestätigte seinerseits 1939 die Schwingung dieser Langen Wellen und benannte sie nach Kondratieff. Zugleich verband er sie mit anderen Zyklen, darunter denen nach Clément Juglar. Der hatte 1860 erstmals den Zusammenhang von Wirtschaftsaufschwung und -abschwung als einen einheitlichen Prozeß von neun bis zehn Jahren Dauer beschrieben, der dann bei Marx als »Krisenzyklus« wieder auftauchte.
In diesem Verständnis umfaßt der Kondratieff-Zyklus sechs Juglar-Zyklen und dauert durchschnittlich 55 Jahre beziehungsweise zwei Generationen. Danach fällt der erste Kondratieff mit der französischen Revolution zusammen; er beginnt mit der frühen Maschinerie. Der zweite, nach Schumpeter »bürgerliche« Kondratieff ging dann von 1843 bis 1897 und war durch Dampfmaschine und Eisenbahn geprägt. Der dritte, »moderne« reichte bis 1952 und war von Elektro- und Chemieindustrie bestimmt, und der vierte Kondratieff ging von 1953 bis 2007 und wurde wegen seiner Aufschwungsphase – einer Kopplung von Massenproduktion und Massenkonsum – als »Fordismus« charakterisiert. Der Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel bekräftigte diese Sicht, räumte aber zugleich ein, daß wir letztlich nicht wissen, warum das so ist.
Wir befinden uns derzeit in einer Phase des Umbruchs, wissen aber noch nicht, wohin die Reise geht. Der Wirtschaftswissenschaftler Rainer Land verweist auf das Problem, es könne durchaus sein, daß angesichts rascher Produktivitätssteigerung, Freisetzung von Arbeitskräften und Umweltvernutzung der derzeit beobachtbare konjunkturelle Aufschwung nur eine kurze Unterbrechung einer weiterhin depressiven Lage ist, die auf der Basis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung grundsätzlich nicht überwindbar sei. Das ist ja auch die Grundaussage einer sich »marxistisch« gerierenden Richtung, die den baldigen Untergang verkündet.
Dagegen spricht nicht zuletzt, daß genau dies die analytische Herangehensweise der regierenden Kommunisten im osteuropäischen Realsozialismus von den zwanziger bis zu den sechziger Jahren war: Sie suchten immer jene Argumente, die für das baldige Ende des Kapitalismus sprachen, und versäumten am Ende, die Entwicklungskräfte des kapitalistischen Westens richtig zu interpretieren und die Probleme des eigenen Systems zutreffend zu analysieren.
So gibt Rainer Land zu bedenken, es könnte auch sein, daß wir am Beginn einer Erholung stehen, der gegebenenfalls eine Phase längerfristiger dynamischer Entwicklung folgen könnte. Die vorherigen Kondratieffs waren jedoch immer mit neuen Basistechnologien und einem veränderten Typus der wirtschaftlichen Regulation verbunden. Insofern wäre jetzt nach fundamentalen Bedingungen für einen anhaltend neuen Entwicklungspfad zu schauen. Ein solcher wäre denkbar, wenn die Grenzen des fordistischen Regimes der Produktivitätsentwicklung – raschere Steigerung der Produktivität als des Gesamtprodukts und Vernutzung der Ressourcen mit Umweltzerstörung und steigenden Energie- und Rohstoffpreisen – überwunden würden. Das heißt, steigende Produktivität müßte mit sinkendem Ressourcenverbrauch (Energie, Rohstoffe, Emissionen) verbunden werden. Damit könnte ein moderates Wachstum des Konsums und vor allem eine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden. Das würde eine Überwindung der fundamentalen Ursachen der langen Rezession – seit Mitte der 1970er Jahre – bedeuten und zugleich eine neue Welle wirtschaftlicher Entwicklung eröffnen.
Rainer Land diskutiert dies im Kontext der Debatte Grundeinkommen versus Vollbeschäftigung. Sein Plädoyer lautet: Grundeinkommen und Vollbeschäftigung! Es müßte auch unter den Bedingungen der Marktwirtschaft – oder gerade wegen dieser – das Recht auf Arbeit sichergestellt werden. Das Problem der Arbeitslosigkeit dürfe nicht durch gesellschaftliche Ausgrenzung der Arbeitslosen bearbeitet werden – wie es massiv mit »Hartz IV« erfolgt –, sondern bedürfe einer Verkoppelung mit Instrumenten eines bedingten Grundeinkommens. So könnten kurzfristige und langfristige Schwankungen des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage nach Arbeitsplätzen ausgeglichen werden und ein Gleichgewicht erreicht werden, das nicht zu Lasten derer geht, die auf die Verdingung als Arbeitskraft angewiesen sind.
Damit würden die Verantwortung und die Spielräume linker Politik aber nicht geringer, sondern eher größer. In einer scheinbar marxistischen Analyse könnte ja der rasche Zusammenbruch des Kapitalismus als günstiger erscheinen als der Umstand, daß wir es mit einem neuen Kondratieff zu tun haben, der unter kapitalistischen Bedingungen abläuft und wiederum 55 Jahre dauert – das hieße bis 2062. Wenn dieser jedoch unter Bedingungen einer politischen Hegemonie der Linken verlaufen würde, wären die Chancen größer, daß die unausweichlichen Konflikte nicht mit Gewalt ausgetragen werden und gesellschaftliche Lösungen zugunsten der Arbeitenden und der Arbeitslosen gefunden werden.
Das wäre doch auch eine gute Nachricht. Zudem korrespondiert dies mit dem Befund des Wirtschaftshistorikers Immanuel Wallerstein, daß das kapitalistische Weltsystem sich Mitte des 21. Jahrhunderts überlebt haben wird. Die Bedingungen für eine Welt jenseits des Kapitalismus würden sich in der Rezessionsphase des nächsten Kondratieff herausbilden: ab 2035. Die intellektuellen und politischen Bedingungen dafür, daß es dann eine handlungsfähige Generation kreativer linker Kräfte, Parteien, Bewegungen, Wählermehrheiten und Politiker gibt, müßten jetzt geschaffen werden.

Zum Weiterlesen: Schwerpunktheft »Grundeinkommen«, Berliner Debatte Initial, Heft 2/2007