Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 16. April 2007, Heft 8

Meine Fahrt nach Ramadan (II)

von Reinhard Stöckel

I

Einmal, dachte ich, einmal wird die Sonne untergehen und dann, und dann … So saß ich am Ufer des Bosporus und wartete auf den Sonnenuntergang. Menschenmassen strömten auf die Fähren und von den Fähren herunter vorbei an diversen Imbißständen, wo es dampfte, rauchte, duftete. Da, auf einem Grill, brutzelten frisch filettierte Fische; sie schienen nur auf mich zu warten. Sie lockten, sie winkten, sie riefen mit ihrem Duft wie die Brote in Frau Holles Backofen: Komm her, und kauf uns. Komm her und kau uns, komm her und schluck uns …
Endlich verschwand die Sonne hinter einer Moschee. Doch keinen schien das zu kümmern. Die Leute strömten weiter, schleppten ihre Taschen, Säcke, Körbe, Koffer, Kinder vorbei am duftenden Bratfisch.
Da endlich ein Türke, unverkennbar ein Türke. Tatsächlich, der kaufte einen Fisch. Endlich. Ich stellte mich daneben und lächelte den Verkäufer erleichtert an: Einen Fisch bitte!
Was für ein Anblick: Wie er das frische Brötchen so aufschnitt, daß die Krümel knackend flogen, wie er ein Salatblatt hineinlegte, das knusprige Fischlein darauf bettete, es mit Tomate, Gurke, Zwiebel zudeckte und endlich mir in die Hand drückte. Ich setzte mich neben den Türken. Und aß und aß und … Was war das? Die Sonne war noch nicht verschwunden! Sie hatte ihren Weg fortgesetzt und tauchte nun neben der Moschee rotglühend zwar, immer noch sichtbar, wieder auf.
Ich äugte nach dem Türken neben mir. Der aß ungerührt weiter. Also auch ich, wollte es zumindest, doch etwas hinderte mich am Schlucken, etwas hing in meinem Rachen fest, eine Gräte ziemlich weit hinten. Ich kaute nicht mehr, ich atmete nicht mehr, ich war ganz still und versuchet meinen rasenden Gedanken zu folgen: Jetzt wirst du gleich weiteratmen müssen, aber du wirst nicht können, denn die Gräte wird sich in deinem Schlund verkeilen, du wirst husten, du wirst keuchen, du wirst blau anlaufen, du wirst schließlich zu Boden stürzen, und hier am Ufer des Bosporus nach Luft schnappen wie ein aufs trockene geworfener Fisch. Und die Türke werden ungerührt vorübereilen … oder nein, sie werden zusammenlaufen, sie werden mit dem Finger auf mich zeigen und einander zuraunen; Da seht ihn, den Ungläubigen! Allah hat ihn gestraft für seine Gier.
Ich räusperte mich, ich atmete ganz vorsichtig, hüstelte ein wenig, kramte mit dem Finger in meinem Rachen nach der Gräte, es würgte mich, es … Plötzlich ein harter Schlag auf meinen Rücken, ein kurzer Huster meinerseits und Fischbröckchen samt Gräte flogen aufs Pflaster, und der Türke neben mir grinste mich an.
Dann wandte er sich wieder seinem Rosenkranz zu und betete. Vermutlich bat er Allah um Vergebung für seine und meine Sünde.
Ich stand auf, schlug im Wörterbuch nach und sagte tesekür ederim! Danke! Dann streckte ich meinem Retter kumpelhaft den aufgerichteten Daumen entgegen.
Ich hätte vorher auch diese Geste nachschlagen sollen, wahrscheinlich entsprach sie dem aufgerichteten Mittelfinger bei uns. Denn der Türke sprang plötzlich auf, wurde hochrot, als hätte er jetzt die Gräte im Hals und ein heftiger Wortschwall ergoß sich über mich. Daß es keine Freundschaftsbekundungen waren, verstand ich auch ohne Wörterbuch.
Das war er: der Clash of Civilization.

II

Als ich den Türken, der mir die Gräte aus dem Rachen geklopft hatte, irrtümlich beleidigt hatte, sprang mir einer der Angler bei, die sich am Bosporus die Zeit vertrieben, und beruhigte seinen Landsmann. Voll Dankbarkeit lobte ich die Sprotte, die in seinem Eimerchen schwamm. Er wollte sie mir schenken. Zehn Lira, sagte er, das sei doch geschenkt.
Ehrlich, von Fisch hatte ich wirklich genug. Außerdem zehn Lira waren auch hier etwa fünf Euro …
Als ich noch überlegte, wie ich meine Ablehnung vorbringen konnte, ohne die Ehre des Türken zu verletzten, legte ein zweiter Türke seine Hand freundschaftlich auf meine Schulter und bat, ihm eine Stange Euromünzen einzuwechseln. Gleichzeitig offerierte mir eine dritter mit ausgebreiteten Armen, über denen Ansichtskartenschlangen hingen, seine Ware. Der nächste Türke warf sich mir zu Füßen, eine Handlung deren Zweck ich erst begriff, als – schwupps – eine dicker Klecks Schuhcreme mein Fußleder zierte. Das meine Schuhe dunkelbraun und die Creme rotbraun war, schien ihn nicht zu bekümmern.
Ich war gleichzeitig in einen Handel mit mehreren Türken verstrickt: ein Fischhändler, ein Geldwechsler, ein Ansichtskartenverkäufer und ein Schuhputzer. Ich fürchtete einerseits, dieser Handel könnte in Händel ausarten, andererseits wollte ich nicht gleich am ersten Tag meine Reisekasse leeren.
Ich beschloß, mich auf den Schuhputzer zu konzentrieren. Die anderen Türken sahen interessiert zu, bereit, jederzeit mit ihren Offerten meine etwas nachlassende Handelslust neu zu stimulieren. Der Schuhputzer kannte Berlin und München und lobte Deutschland: schönes Land, reiches Land. Er wiederholte: reiches Land. Er kam aus Ostanatolien, hatte eine kranke Frau und fünf Kinder. Ich nickte verständnisvoll. Er nahm dies als Einverständnis in die Schuhpflege. Sie glänzten nach weniger als einer Minute wie neu, daß sie in den Lederfalten ein wenig rötlich schimmerten, machte fast gar nichts.
Ich kramte in meiner Börse, in der Absicht dem Schuhputzer zwei drei Euro zu geben. Da sagte er: Fünfzig!
Ich war so erschrocken und fragte nach: Fünfzig Euro?
Nein, er lächelte großmütig: Lira. Fünfzig Lira oder dreißig Euro.
Da ich noch immer ungläubig dreinschaute, erläuterte er: Er käme aus Ostanatolien, hätte eine kranke Frau und fünf Kinder …
Ich vermied es, zu nicken. Und hob nur ratlos die Schultern.
Da sprang mir der Angler bei und sagte: Höre Kollege, er meinte den Schuhputzer, fünfzig ist zuviel. Und zu mir: Gib im vierzig, das ist okay.
Vierzig Lira, umgerechnet etwa zwanzig Euro, das war … Im selben Moment streckte mir der Geldwechsler seine Münzen hin: Zehn Euro, bitte, das ist ein guter Preis. Ich kann wechseln. Ratlos sah ich von einem zum andern. Die Türken lächelten nachsichtig und erwartungsvoll. Ich gab mich geschlagen und – ritsch – öffnete ich den Reißverschluß meiner Gürteltasche und – ratsch – meine darin befindliche Geldbörse.
Okay, sagte ich, zwanzig. Zwanzig Lira.
Mehr habe ich nicht, sagte ich im Brustton der Überzeugung, und zeigte meine spartanisch gefüllte Börse.
Von meinem Brustbeutel, prall gefüllt mit Scheinen schwieg ich wohlweislich. Du, sagte ich und verfiel in mein bestes Ausländerdeutsch, du kommen aus Ost-Anatolien. Ich kommen aus Ost-Deutschland.
Und, fragte der Schuhputzer ungerührt, wieviele Kinder?
Nur drei, sagte ich und dachte an seine fünf, aber, sagte ich, die futtern Riesenberge Griesbrei und dazu den ganzen Kühlschrank leer.
Was ist Kühlschrank?, fragte der Schuhputzer.
Ja, sagte ich, aber dann habe ich noch eine Frau. Die muß jede Woche, sagte ich, zum Friseur. Ist werrie Ixpänsiff. In Deutschland nämlich, sagte ich, Frauen dürfen tragen kein Kopftuch. Du verstehen: Kopftuchverbot. Die Türken nickten und sahen mich mitleidig an.
Am Ende verließ ich siegreich den Platz. Gut gelaufen, dachte ich, schließlich habe ich weder eine Sprotte für zehn Lira noch eine Ansichtskarte für fünf gekauft. Nun gut zwanzig Lira für einmal Schuhputzen, nun ja … Aber wenn man bedenkt, wie ich den runtergehandelt habe, immerhin …
Stolz, wie nach einer Initiation, trug ich meine rötlich glänzenden Schuhe durch den Staub Istanbuls.