Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 16. April 2007, Heft 8

Bahnhof verstehen

von Erhard Weinholz

Vor einiger Zeit waren meine Frau und ich bei schlechtem Wetter am Wiesenburger Bahnhof ausgestiegen; ich wollte meine Nichte bitten, uns mit dem Auto abzuholen, doch der Münzfernsprecher in der Schalterhalle war fort. Der Wirt der Bahnhofsgaststätte, Zum Abstellgleis hieß sie neuerdings, half mit dem Handy aus.
Während wir warteten, erzählte der junge Mann von seinen Plänen: Er wollte mit seiner Freundin in eine der leerstehenden Dienstwohnungen im Hause ziehen, wollte, da der Gaststättenbetrieb allein nicht rentierte, mit ihr zusammen die übrigen Räume dort oben zu einer Pension ausbauen: Bahnhof Wiesenburg als Ausgangspunkt von Touren durch die weiten Flämingwälder.
Viel besucht war der Ort laut Kießlings Wanderbuch für die Mark Brandenburg und angrenzende Gebiete schon vor hundert Jahren; dank Schloß, angrenzendem Park und diverser Veranstalter von Busreisen ist er es bis heute geblieben. Doch nicht von ihm, zu DDR-Zeiten als Perle des Flämings gepriesen, soll hier die Rede sein, sondern eben diesem Bahnhof, gut zwei Kilometer entfernt nahe dem Südrand des Parks gelegen.
Bahnstation ist Wiesenburg seit 1879. Baulich hat sich seitdem nur wenig verändert: Noch immer halten die Züge vor einem schmuckarmen, typisch preußischen Amtsgebäude aus soliden roten Klinkern, zweiflügelig, auf der einen Seite die Lagerhalle, auf der anderen die Gastwirtschaft, in der Mitte ein zweieinhalbgeschossiger Trakt mit Schalterhalle, Diensträumen und Wohnungen. Große alte Ulmen und Linden säumen den kopfsteingepflasterten Vorplatz. Seit einigen Jahren steht die Anlage unter Denkmalsschutz.
Damals, 1879, war der Ort von der Reichshauptstadt aus mit der Wetzlarer Bahn zu erreichen, der sogenannten Kanonenbahn, die von Wiesenburg weiter nach Westen führte – als Teil der fürs Militär wichtigen Verbindung mit dem lothringischen Metz. Erst in den zwanziger Jahren kam der Abzweig nach Südwesten hinzu. Im Zweistundentakt verkehrt hier der RE 7, Wünsdorf/Waldstadt – Berlin – Dessau. Fracht hingegen wird nicht mehr abgefertigt.
Auf der Übersichtskarte des Reichsbahndirektionsbezirks Magdeburg aus dem Jahre 1967 erscheint die Station noch als »Wagenladungsknoten«. In den achtziger Jahren wurde ein Teil des Güterverkehrs im Bahnhof der Kreisstadt konzentriert, in den Neunzigern verlagerte sich ein weiterer Teil von der Schiene auf die Straße. Zudem entließ das Sägewerk gegenüber dem Bahnhof, Großkunde seit 1883, Schritt für Schritt die Belegschaft und stellte 1995 den Betrieb ein.
Auch die Mitropa-Gaststätte verlor so an Kundschaft und schloß. Später führte jemand die Wirtschaft als Flämingstuben weiter, doch der Betrieb lohnte nicht, konnte auch von Wandergruppen nicht profitieren. Sie hielten sich wohl an die schon im Kießling von 1907 zu findende Empfehlung: »Angetreten wird die Tour am zweckmäßigsten auf der Bahnstation, wo weniger Züge halten, beendet da, wo sich eine größere Auswahl bietet.« Und wer in Wiesenburg aussteigt, will wandern und nicht rasten.
Auch der Wirt, mit dem wir vor zwei Jahren ins Gespräch gekommen waren, hat inzwischen aufgegeben. Zwar hängt noch das Kneipenschild, doch das Mobiliar ist ausgeräumt, die Tafel mit den Öffnungszeiten von der Tür, die zur Schalterhalle führt, ist entfernt.
Man ist in dieser Halle meist allein. Fahrkarten werden hier schon seit langem nicht mehr verkauft, das Schalterfenster ist mit buntem Stoff verhängt. Aus der Wand neben der Eingangstür ragen zwei starke Haken; sie trugen die Fahrplantafel. Buchstabe für Buchstabe, Ziffer für Ziffer wurden Stationsnamen und Zahlen aus beschrifteten Emailleplättchen zusammengesetzt.
Am gelben Blech an der Wand gegenüber war der Münzfernsprecher befestigt. Es wird nun statt seiner für Mitteilungen genutzt. Ein unbeholfen gezeichneter kopfloser Körper ist zu sehen, die Rechte weist auf einen Rhombus unten am Bauch: »Katie Winter ihre Muschi«. Auch den Briefkasten draußen am Stationsgebäude hat man entfernt, Dübel markieren die Stelle, wo er hing. Er wurde ohnehin nur einmal am Tag geleert. Eine wohlerhaltene Inschrift ist darunter zum Vorschein gekommen: P. R. aus dem anhaltischen Lindau hat hier am 5. Mai 1957 den Stein geritzt. Lindau lag an der Strecke nach Güsten, Teil der erwähnten einstigen Kanonenbahn, von Reisenden zuletzt kaum noch genutzt und vor einigen Jahren stillgelegt.
Auf dem Bahnhofsvorplatz wird eine Motorsäge angeworfen. Der Platz soll neu gepflastert, soll überhaupt völlig umgestaltet werden, da sind einige der Bäume im Wege.
In dem Häuschen, das zur Fuhrwerkswaage gehört, wird man später auf den Bus warten können. Die anderen bahneigenen Nebengebäude am Platz werden abgerissen: der unverputzte Ziegelbau mit den eingeschlagenen Fensterscheiben, der einst Reparaturtrupps Unterkunft bot, und die kleine Baracke daneben. In einem offenen Anbau an ihrer Rückseite fand ich letzten Sommer zwischen rostigen Farbbüchsen noch einige Packungen ATA-Salmiak-Scheuerpulver zum Kleinverkaufspreis von 12 RPfg., 11.47 lautete der Druckvermerk. Nun soll es hier schmuck werden wie überall.
Vom Ort zum Bahnhof war ich durch den Park gelaufen. Zurück nehme ich den Weg über die B 107, die nahebei die Gleise kreuzt. Die Straße ist in tadellosem Zustand, der Autoverkehr beträchtlich. Ich bleibe auf dem Rasenstreifen am Rande, passiere das allmählich zuwachsende Gelände der Sägemühle, das abseits liegende Heizkraftwerk, eine Investruine aus den späten Achtzigern, und den geschlossenen Raiffeisenmarkt, früher Verkaufsstelle der BHG, der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft. Ein Raum scheint noch als Büro genutzt zu werden, an der Wand hängt ein Kalender vom Vorjahr.
An die BHG erinnert ein Becher auf dem Fensterbrett: »25 Jahre VEB Kohlehandel Potsdam«. Nach einigen hundert Metern erreiche ich den Westrand des Parks, ein wenig benutzter Pfad führt hinein. Links und rechts des Weges liegen leere Flaschen im Unterholz, Schnaps-, mehr aber noch Sektflaschen, allesamt Marke Rotkäppchen, teils halbtrocken, teils Rubin.