Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 2. April 2007, Heft 7

27. November 2030

von Margit van Ham

Die Welt reibt sich auch nach zehn Jahren immer noch die Augen. Niemand hätte es für möglich gehalten, daß Deutschland so schnell zerfallen würde. Es war in der Tat ein atemberaubendes Tempo, das die Deutschen da vorlegten. Dabei ist alles von heute aus gesehen durchaus folgerichtig geschehen, und man hätte es vermutlich stoppen können. Lassen Sie uns noch einmal Revue passieren, was geschah und wie es begann.
Die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch der Politikfarcen am Beginn unseres Jahrtausends. Die Politiker taten, was Politiker immer tun: reden, Macht festhalten oder erobern, ein bißchen hie und da intrigieren, sich Lobbyarbeit für bestimmte Branchen gut entlohnen lassen, das ganze mit flotten Sprüchen über Fortschritt und Globalisierung verbrämen. Die Leute waren das gewohnt und kümmerten sich nicht weiter darum. Aus heutiger Sicht mag das ein Fehler gewesen sein.
Der Föderalismus, schon immer ein beliebtes Instrument des Kampfes um die Macht zwischen Parteien, Bund und Ländern, kristallisierte sich jedenfalls bald als das zentrale Kampffeld heraus. Dabei ging es zunächst eigentlich gar nicht so sehr um die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, sondern um verletzte Männerehren. Hatten die Länderfürsten doch eine Frau als Bundeskanzler vor die Nase gesetzt bekommen. Die Tatsache, daß sie aus dem Osten kam, trug nicht zur Mehrung der Loyalitätsbezeugungen bei. Einige Landespolitiker probten mit Hilfe der Föderalismusdiskussion den Aufstand. Als sie genug geprobt hatten, war die störende Frau zwar weg; aber sie konnten sich über die Nachfolge nicht einigen, und der Streit setzte sich fort und verselbständigte sich mehr und mehr. Es war bald nicht mehr auszumachen, wer wann gegen wen oder mit wem kämpfte.
Die Bundespolitiker versuchten, das Problem zu lösen, indem sie immer mehr Kompetenzen abgaben – niemand mochte leichtfertig das Wohlwollen der mächtigen Landesfürsten aufs Spiel setzen. Zunächst erhielten die Länder die alleinige Verantwortung für die Bildung. Sie wetteiferten miteinander darum, ein jeweils einzigartiges System zu entwickeln. Binnen drei Jahren war Deutschland von den hinteren Rängen der PISA-Studie auf den letzten Platz gerutscht. Von hier aus konnte es zumindest nicht schlechter werden – und man hatte die Hoffn ung, daß eventuell der Kosovo bald überholt werden könnte. Immerhin waren noch 67 Prozent der Bevölkerung fähig, die Bildzeitung zu lesen; eine einheitliche Rechtschreibung galt ja ohnehin nicht mehr. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen sanken, weil viele den Antrag nicht mehr ausfüllen konnten. Eine Flucht aufs Land begann – der Trend zur Selbstversorgung wurde mit Genugtuung aufgenommen und als wachsende Eigenverantwortung der Bürger bewertet.
Die Gesundheitsreform gestaltete man so, daß jedes Land seine eigenen Gesetze und Durchführungsbestimmungen erlassen konnte. Der Erfolg war durchschlagend. Ärzte behandelten nur noch gegen Bares – alles andere war ihnen über den Kopf gewachsen. Die Krankenkassen brachen zusammen, da die Leute sich weigerten, unter diesen Bedingungen weiterhin Beiträge zu zahlen. Die Liberalen jubelten, daß der Markt endlich die Krankenkassen abschaffe. Herzkreislaufprobleme gingen durch den Zwang zur Bewegung bei der Eigenversorgung mit Lebensmitteln deutlich zurück. Die durchschnittliche Lebenserwartung nahm zwar dennoch ab, aber entlastete wiederum die Rentenkassen deutlich. Derartige Erfolge führten in rascher Folge dazu, daß der Bund sich bis auf die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der UNO aus allen Aufgabenbereichen zurückzog.
Das Parlament wurde natürlich dennoch gewählt, und Posten bei der Regierung waren begehrt, weil hochdotiert und mit wenig Verantwortung belastet. Die Bundeswehr wurde zu Länderarmeen umgestaltet; jedes Jahr fand zwischen den Bundesländern ein Wettbewerb um die schönste Uniform statt. Eine Diskussion bahnte sich an, wie die jeweiligen Grenzen zwischen den Bundesländern geschützt werden sollten. Bald installierte Bayern erste Grenzkontrollen.
Es mehrten sich nun die Stimmen, die die Verschwendung der Steuergelder zur Finanzierung der Bundesregierung nicht länger akzeptieren wollten. Bayern bot an, diese Aufgaben mit zu übernehmen. Der Bundestag schloß sich dieser Meinung an, durfte zur Belohnung nach München umziehen und wurde dort – aufs beste versorgt – als zweite Kammer des Bayrischen Landtages etabliert. In Bayern dachte man ständig darüber nach, wie man den Rest der Republik vom Reichtum der Bayern fernhalten könne. Im Jahr 2020 war es dann so weit. Bayern rief sich zur unabhängigen Demokratischen Republik Bayern aus. Die anderen Länder waren düpiert und die Bürger nun doch erschrocken.
Aber eigentlich war ihr Interesse an Deutschland schon längst verlorengegangen. Es wurde ein wenig getrauert und zeitgleich intensiv überlegt, wem man sich nunmehr anschließen könnte, um den Bayern Paroli zu bieten. Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und Hamburg baten um Aufnahme in das Königreich Dänemark. Die Dänen waren in der Folge eine Minderheit in Dänemark. Es gab eine heftige Diskussion, ob das ein neuer Trick der Deutschen zur Eroberung Europas sei; aber im Endeffekt stimmte man zu. Die Ostländer dachten kurz an eine Neuauflage der DDR ohne Sozialismus, trauten sich dann aber doch nicht. Mecklenburg-Vorpommern wandte sich an Schweden, erinnerte an alte Verbindungen. Brandenburg und Sachsen sowie Sachsen-Anhalt entschieden sich für Polen, das ohnehin von Jahr zu Jahr mehr deutsche Arbeitskräfte angezogen hatte. Berlin, an Isolation und Schulden gewöhnt, wartete erst mal ab und unterhielt ansonsten enge Verbindungen mit Singapur, um das Überleben als Stadtstaat zu trainieren. Kreuzberg, Wedding und Neukölln schlossen sich allerdings zu einem autonomen Gebiet innerhalb Berlins zusammen, in dem die türkischen Gesetze galten. Die restlichen Bundesländer vergrößerten Frankreichs Staatsterritorium. Alle Deutschen belegten zunächst Sprachkurse zur Vorbereitung auf die Integration.
Heute, nach mehr als zehn Jahren, ist die Integration fortgeschritten, und es gibt inzwischen schon zahlreiche Projekte zum Schutz der deutschen Sprache. So ganz haben die Deutschen jedoch noch nicht verdaut, daß sie nicht mehr in Deutschland leben. Unzählige Bücher sind über den Verlust an Identität und über die Suche nach dem Sinn dieser ganzen Entwicklung veröffentlicht worden. Die Quintessenz dieser wissenschaftlichen Betrachtungen lautet: Es gibt keinen.
Aber man ist nun endlich die unfruchtbaren Föderalismusdebatten los und kann am allgemeinen Fortschritt Europas teilhaben – wenn auch nicht mehr als deutscher Staatsbürger. Die meisten sind’s zufrieden. Nur an den Universitäten gibt es einige jugendliche Radikale, die die Burschenschaften wiederbeleben mit dem Ziel, ein neues Deutschland zu bilden. Ihr Verfassungsentwurf sieht eine föderale Republik vor.