Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. März 2007, Heft 5

Schmotziger Dunschtig

von Sarah Liebigt

Sieben Uhr. Der Wecker klingelt. Nur drei Stunden geschlafen, ich muß heute meine Bachelor-Arbeit abgeben und muß bis zehn vor neun die letzten Korrekturen vornehmen. Durch das geöffnete Fenster stürzt Lärm in mein Zimmer. Ja, stürzt, überrollt mich. Es hört sich an, als spiele draußen im Garten eine Dreißig-Mann-Kapelle. Dazu Johlen und Lachen. Der Lärm weht herüber, als würden die munteren Musikanten direkt durch den Garten an meinem Fenster ziehen. Es folgt die nächste Welle Marschmusik. Diesmal begleitet von Gehupe und Fetzen eines Liedes. Heute ist dreckiger Donnerstag, hier in Konstanz auch Schmotziger Dunschtig genannt. Seit mehreren Tagen mischen sich in die vorwiegend rosarote herzige Dekoration der Geschäfte bunte Luftballons und Fetzengirlanden, und auf den täglich besuchten Webseiten und unter Werbe-E-Mails und Newslettern prangen rote Nasen und Clownsgesichter und Grußworte wie »Ho Narro Ho Narro«.
9.45 Uhr. Zum zweiten Mal zum Copyshop. Der erste Ausdruck war fehlerhaft. Ich mußte die Datei korrigieren. Am Tresen stehen zwei. Sie tragen lange schwarze samtene Mäntel. Ich sehe Blutspuren in ihren Mundwinkeln. Graf und Gräfin Dracula. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Faschings-Make Up nicht ihre übliche Aufmachung ist – die heute lediglich durch die Streifen roten Blutes ergänzt wurde. Aus dem Auto vor dem Geschäft ruft eine Kinderstimme. Dort sitzen Biene Maja und ein Wikinger. Nein, eine Kreuzung aus Wikinger und Tempelritter. Mit dikkem Fell über den Schultern und silbergrauem Helm sitzt er schweigend auf dem Rücksitz der gräflichen Kutsche, während seine schwarzgelb gestreifte Schwester mit Frau Mama diskutiert.
11.30 Uhr. Zur Universität hinauf. Ein Mitbewohner hatte mich gewarnt, ich müsse mich heute am Tag der Abgabe durch betrunkene, seltsam gekleidete Horden kämpfen. Es ist jedoch alles ruhig. Ich schließe mein Rad ab und betrete das Gebäude. Auf den ersten Metern ist es immer noch ruhig. Doch schon fühlt sich die Luft stickiger an als sonst, schon übermitteln meine Ohren ein näher kommendes Tongemisch aus JubelTrubelHeiterkeit, Marschmusik und einer verzerrten Männerstimme, die irgendetwas Unverständliches in ein Mikrophon spricht. Das Foyer ist dicht an dicht besetzt mit Menschen, die neongrüne und schneeweiße Perücken tragen, dazu Hosenträger und Fetzenkostüme. Ich schlage mich zum Büro des zentralen Prüfungsamtes durch.
12.12 Uhr. Arbeit abgegeben. In meinem Rucksack sind nun statt der drei gedruckten Exemplare Einkäufe verstaut. Rechts huscht der Schatten eines überholenden Fahrrades vorbei. Kann der seine Holzlatten nicht mit dem Auto transportieren? Doch an mir schiebt sich kein handwerkelnder Mensch in Latzhose und Hemd vorbei, sondern eine Gestalt mit rotem Kopftuch, geblümtem Rock und riesigem Besen in der Hand. Es ist eine hakennasige Gestalt. Erst als sie mich überholt hat, sehe ich, daß die Hände der Radfahrerin Männerhände sind. Ich kann grade noch darüber nachdenken, ob Hexen also auch männlich sind oder Männer auch Hexen, als die Ampel vor mir auf rot springt und ich einen kopflosen Teddybären, eine füllige Tigerdame und zwei kuschelnde schwarzfellige Monster mit großen blauen Augen beim Überqueren der Straße beobachte.
13 Uhr. Zu Hause. Mails abgerufen. Im Posteingang die Einladung in eine neue Gruppe einer virtuellen Plattform. Ihr Name: Narren nerven! Ich klicke auf »Einladung annehmen« und denke beim Betrachten der Mitglieder an mein erstes Jahr an der Universität. Im ersten Konstanzer Frühling mußte ich am Sprachlehrinstitut mit Kommilitonen auf Englisch darüber diskutieren, ob die Lehrkräfte an Fasnacht in Kostümen erscheinen dürften oder nicht. Die Diskussion artete schnell in eine Entweder-Oder-Debatte aus, in welcher die im Konstanzer Umland heimischen Studenten behaupteten, man wolle Fasnacht ja komplett abschaffen und könne nicht begreifen, daß man mit einem solchen Akt doch kostbares traditionsreiches Kulturgut in den Abfall werfen würde. Sie ihrerseits konnten sich nicht vorstellen, jemand sei ohne dieses kostbare Gut großgeworden und würde nun schlichtweg darauf verzichten. Können.
13.30 Uhr. Schokosahnepudding aus dem Kühlschrank. Als ich in die Küche komme, steht ein Mitbewohner in blauen Jogginghosen, die mit Hosenträgern in Clownsmanier auf Bauchnabelhöhe gezogen wurden, vor mir. Dazu schwarze Kniestrümpfe und eine Krawatte, deren Spitze gerade mal übers Brustbein hinaus reicht. Er grinst etwas verlegen und sagt, daß er ja eigentlich auch Verächter des Fasnachtstrubels sei. Aber einmal müsse man das ja mitgemacht haben.
Es ist mein dritter schmotziger Dunschtig in dieser süddeutschen Stadt, aber erstmalig darf ich jetzt erleben, wie einer vom Alltags- zum Fasnachtsmenschen wird. Die Schminke käme noch, sagt er.
Mir Narre, mir Narre, / mir sind it räecht im Grind, / doch oft sind dia it gscheiter, / wo koine Narre sind.