Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. Februar 2007, Heft 3

Kunst und Mühe des Weglassens

von Klaus-Dieter Schönewerk

Das soll ihm erst mal einer nachmachen – auf einem Dilemma ein außerordentliches Lebenswerk zu gründen. Harald Kretzschmar, Jahrgang 1931, würde man landläufig – so wie er’s selber gerne tut – einen Karikaturisten nennen. Selbige kennen wir aus Zeitungen und Zeitschriften und verbinden damit Leute, die aus dem Augenblick heraus einen gezeichneten, möglichst witzig, satirisch zugespitzten Zeit- oder Ereigniskommentar absondern – meist morgen schon der Schnee von gestern. Freilich, auch das gibt’s bei ihm. Aber oft bemerkt der Betrachter auf den »HK« signierten Zeichnungen etwas Abweichendes, Ungewohntes, was die einen als Mangel und die anderen als Gewinn ansehen. Kretzschmar genügt nicht das Streben nach dem entlarvenden »Gag« in der Situation, er will zum Augenblicke sagen »Verweile doch, du bist so schön«. Und weil er’s »faustdick« hinter den Ohren und dazu noch einen besonderen Blick für Menschen und das Menschliche hat, verlegt er sich vorwiegend aufs Porträtzeichnen. Das Konterfei eines Menschen enthält dessen Vergangenheit und ein Stück seiner Zukunft – wenn man’s denn wirklich entdecken kann. Und als Entdecker des unverwechselbar Eigenen eines Menschen ist Kretzschmar wahrlich ein Meister.
Bis zum 12. März kann man eine Auswahl seiner Arbeiten vor allem aus den Jahren nach 1990 in der GBM-Galerie (der Langname: Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.) in der Berliner Weitlingstraße 89 (nahe Bahnhof Lichtenberg) sehen und ins fröhlich-melancholische Sinnieren kommen. Zumeist Prominente von Bühne und Film oder aus der Literatur finden sich da abgebildet, oft mit freundlich-achtungsvoller Zuspitzung mit wenigen prägnanten Strichen aufs Papier gebannt. (Man merkt, der Zeichner kann virtuos mit den technischen Möglichkeiten einer Zeitung umgehen).
»Porträts und andere Karikaturen« nennt H. K. seine Ausstellung, was nur bedeuten kann, daß er auch seine Porträts als Karikaturen verstanden wissen will. Das Satirische als Element der Kritik (was auch umgekehrt gilt) läßt in den besten Arbeiten das »gerahmte« Gegenüber durchschaubar werden – etwa den »doppel(ge)sichtigen« Volker Braun oder Hermann Kant, Büsten von Thomas Mann und Stalin in den Händen – wägend(?) und balancierend(?) ihm wirklich zugehörig? Frühere Versuche, Farbe in sein Oeuvre zu bringen, reiften inzwischen zum meisterlichen Ausdrucksmittel für Stimmungen und Weltsichten, fügen dem verknappenden Strich eine neue Dimension von Wertung hinzu.
Etliche Sinnbilder für die neudeutsche Vermarktungsgesellschaft zeigen Kretzschmar als bitterbösen Philosophen und treffen den Nerv der »Ossis«. Überhaupt Kretzschmar als Philosoph: Bei der Vernissage am 12. Januar las er vor dicht an dicht gedrängtem Publikum ein paar Stücke seiner philosophierenden Miniaturen. Die kommen aus Beobachtung und, wie in seinen Zeichnungen, aus selbstkritischer Reflexion, wohl wissend um den Unterschied von Be- oder Verurteilen.
Sein erzählerisches Talent kam an diesem Abend nicht zur Geltung. In etlichen seiner Bücher, zum Beispiel dem autobiographischen Wem die Nase paßt, hat er etwas davon mitgeteilt. Der größte Spaß aber ist, wenn er eine Lesung ankündigt. Zwei oder drei Sätze liest er dann streng nach gedruckter Vorlage, doch dann kommt er ins Erzählen, witzig, überquellend von Erlebnis- und Gedankenstoff. Da merkt man erst so recht, wieviel Mühe es ihm macht, weglassen, verknappen, verdichten zu müssen.