Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. Februar 2007, Heft 4

Koeppen: Ewige Jugend

von Kai Agthe

Es war die einzige originäre Neuerscheinung in den 35 Jahren, in denen Wolfgang Koeppen (1906-1996) Autor des Suhrkamp-Verlags war. Aus dem Abstand von drei Jahrzehnten darf Jugend (1976) eines der wichtigsten Bücher in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts genannt werden.
Die autobiographischen Elemente sind so reichlich, daß man den Band tendenziell als Lebensgeschichte Koeppens lesen kann. Doch schon in einem am 2. April 1976 an seinen Verleger Siegfried Unseld geschriebenen Brief versuchte Koeppen, dieser Lesart zu widersprechen: »Da wieder mal ein Ich berichtet und Lebensdaten des erzählenden Ichs sich manchmal mit meinen berühren, werden Leser den Text für autobiographisch halten. Das stimmt aber nicht. Es ist mehr Dichtung als Wahrheit.« Wie auch immer es in diesem Werk um das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit bestellt sein mag, Jugend ist eines der großen Bücher zum Thema Kindheit: aus disparaten Fragmenten gefügt und atemlos erzählt. Das Leitthema in Jugend ist des Ich-Erzählers selbstgewählte Außenseiterposition in einer Stadt, für die Greifswald, Wolfgang Koeppens Geburtsort, mit seinen Kirchen, Straßen und Lokalitäten Pate stand. Die Schlangenangst der Mutter, die am Anfang benannt und als dunkle Phobie immer wieder thematisiert wird, bescherte dem Buch einen der bekanntesten ersten Sätze deutscher Dichtung: »Meine Mutter fürchtete die Schlangen.«
Volker Weidermann urteilt in seiner Literaturgeschichte Lichtjahre (2005), in der er Unbelesenheit oft und gern mit überzogener Generalkritik zu kaschieren versucht, über Wolfgang Koeppens Spätwerk: »Als dann das dünne autobiographische Fragment Jugend (1976) erschien, spendeten alle pflichtschuldigst Beifall.« Der Applaus war nicht ausschließlich pflichtschuldigst gespendet, sondern galt, wie zahlreiche Rezensenten nach dem Erscheinen erkannten, einem wirklich großen literarischen Text. Nun hat der Münchener Hörverlag dieses Werk als Hörbuch vorgelegt.
Das Besondere: Der Autor liest selbst. Aufgenommen wurde die Studiolesung 1987, da zählte Wolfgang Koeppen bereits 81 Jahre. Doch dieses Alter ist dem Lesenden keineswegs anzumerken. Die Stimme ist nicht brüchig, sondern kräftig und nahezu akzentfrei. Nur manchmal schmuggelt sich ein hart rollendes »R« und ein spitzes »S« als deutlicher Hinweis auf des Autors norddeutsche Herkunft ein. Koeppen trägt diesen großen Monolog unprätentiös, ja fast gemächlich vor. Je länger man der Reihung von Nebensätzen und Ellipsen, dem Stakkato von kurzen und kürzesten Hauptsätzen folgt, um so mehr hat man das Gefühl, keiner Lesung, sondern einer Beschwörung beizuwohnen. Die Aufnahme ist ein Geschenk für alle Koeppen-Leser und die, die es werden wollen. Die Lesung verheißt dem Autor und seinen Hörern nichts weniger als ewige Jugend.

Wolfgang Koeppen liest Jugend. 4 CDs, Der Hörverlag München 2006, 27,95 Euro