Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. Februar 2007, Heft 4

Die Lust am Sammeln

von Renate Hoffmann

Sammeln gehört zu den menschlichen Urtrieben. Es befriedigt den Drang, im Besitz von etwas Außergewöhnlichem zu sein. Es ist eine Leidenschaft, die vor nichts halt macht. Jegliches ist genehm.
Von der verirrten »Fliegenleiche« aus Schillers Briefwechsel mit seinem Lottchen bis hin zum Sabberlätzchen der holden Sissi – und dem Schneckenhaus, in welches sich Konrad Dudens Geist verschreckt zurückgezogen haben soll, als er von der Rechtschreibreform erfuhr.
Zu den seriösen Passionen, angesiedelt auf gehobenem Niveau, zählt das Sammeln gezähnter Bildchen, die durch Mundflüssigkeit angefeuchtet (Rückseite!) oder auch selbstklebend auf schriftliche Botschaften gedrückt – und von hier nach dort versandt werden.
Obwohl der Briefmarken-Themenkreis ausreichend Sammel-Tummelplätze schafft, besteht dennoch das Bestreben, auch hier zu neuen Ufern vorzudringen. Gefragt sind derzeit Stempelaufdrucke mit deutlich lesbarer Angabe bestimmter Briefzentren. Zum Beispiel: Briefzentrum 99. Oder auch versehen mit weniger auffälligen Zahlen, die dem Sammler in seiner fortlaufenden Reihe noch fehlen.
Lieber Paul, Du wohnst doch in der Bundeshauptstadt und kennst Dich im Stadtbild aus. Ich würde es als freundschaftliche Geste betrachten, wenn du mir zu Postaufdrucken vom »Briefzentrum 13« verhelfen könntest. Es muß irgendwo im Norden von Berlin liegen. Als Bruder im Sammelgeiste wirst Du mein Ansinnen verstehen und billigen. Dein Erwin.
Natürlich möchte der eine Sammler dem anderen diesen Wunsch erfüllen. Paul wendet sich mit Erwins Ansinnen an den postalischen Kundenservice BRIEF. Dieser nun ist hocherfreut darüber, daß es noch Menschen gibt, die Briefe schreiben. Er übersendet postwendend eine »Briefkasten-Liste« des Bereiches »13«. Das Schriftstück besteht aus 33 Seiten mit Angaben über 522 Briefkästen, verteilt auf 429 Straßen und öffentliche Zentren. Beigefügt sind genaue Angaben zu den jeweiligen Leerungszeiten – von Montag bis Sonntag.
Vom kommerziellen Hintergedanken des Postkundendienstes BRIEF abgesehen (Erwins Freunde möchten nun auch Stempelaufdrucke mit der magischen »13« besitzen), böte sich so manche anregende Gelegenheit. Paul lernte endlich das nördliche hauptstädtische Stadtgebiet kennen. Er könnte es durchqueren und zu jeder Viertelstunde – von 9 bis 22 Uhr – an beliebigem Ort Nachrichten an Erwin befördern lassen. Vorausgesetzt, er hebt die richtige Briefkastenklappe. Doch mit dem 33-Seiten-Plan ausgerüstet, gelingt solches mühelos.
Paul ist ein Literaturbeflissener. Staunend wandert er von der Romain-Rolland-, zur Lessing-, zur Egon-Erwin-Kisch-, zur Fontanestraße und stellt fest, daß der Berliner Norden wohl sehr gebildet sein müsse.  Diese Wanderungen durch die, an die Mark Brandenburg grenzenden Stadtteile, so schlußfolgert Paul, fördern wahrscheinlich noch manches Ungeahnte zu Tage. Deshalb schreibt er an Erwin (abgelegt im Briefkasten Elsa-Brändström-Straße 1, freitags 13.55 Uhr):
… ich bin gern bereit, Dich und auch Dir bekannte Freunde mit Stempelaufdrucken »13« zu versorgen. Sollten diesbezügliche Anfragen dann befriedigt sein, so schlage ich vor, die Briefzentren »10« und »12« in den Sammelkreis aufzunehmen. Bitte halte doch eine Umfrage. Dein Paul.