Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 22. Januar 2007, Heft 2

Stärker als Hitler und Stalin

von Mario Keßler

Über den Historiker Wolfgang Ruge, Jahrgang 1917, hieß es in einem biographischen Abriß in der DDR: »Von den braunen Machthabern in die Emigration getrieben, nahm er am sozialistischen Aufbau teil und studierte in Moskau und Swerdlowsk Geschichte.« Nichts sollte darauf hindeuten, daß er zu denen gehört hatte, denen der Stalin-Terror das Leben zu zerstören suchte.
Der Verfasser dieser Zeilen kannte Wolfgang Ruge, der ihm zum Freund und Ratgeber wurde, vor der Weltenwende 1989 kaum. Wie jeder Historiker in der DDR hatte er natürlich Ruges Bücher gelesen. Sie befaßten sich vor allem mit der Weimarer Republik und den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Darunter waren Lehrbücher und Gesamtdarstellungen, Biographien über Gustav Stresemann, Matthias Erzberger, Paul von Hindenburg, Heinrich Brüning sowie ein Buch über Hitlers Weg zur Macht. Manche Aussagen des Historikers Ruge sind zeitbedingt. Anderes aber hat sich als haltbar erwiesen, so die detailreichen Analysen über die Beziehungen und Querverbindungen zwischen den industriellen, agrarischen, militärischen und intellektuellen Herrscherklassen bei dem gemeinsamen Projekt, die erste deutsche Republik zu zerstören. Wolfgang Ruges Autobiographie Berlin-Moskau-Sosswa. Stationen einer Emigration (Bonn 2003) ist ein hervorragend geschriebenes Lebenszeugnis, das von der Zeit nicht überholt werden kann.
Es zeigt den damals geradezu exemplarischen Weg eines politisch interessierten jungen Menschen zur radikalen Linken. Ruge entstammte einer Familie, die ein Stück deutscher Geschichte widerspiegelt. In seiner Verwandtschaft finden sich berühmte Namen: Arnold Ruge, Rudolf Virchow, Friedrich Nietzsche. Seine Eltern wurden unter dem Einfluß der Revolutionen von 1917/18 Kommunisten. Als Schüler nahm er an den Demonstrationen gegen Hitler im Januar 1933 teil, die das Schicksal der Weimarer Republik jedoch nicht mehr wenden konnten.
Die ganze Familie Ruge mußte emigrieren. Wolfgang kam 1934 nach kurzer Haft in Deutschland in die Sowjetunion. Für ihn schien das Leben in Moskau zunächst neue Chancen zu eröffnen. Seit 1936 Sowjetbürger, studierte er an den Fakultäten für Literatur und Geschichte und erwarb einen Abschluß als Übersetzer.
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion veränderte 1941 Wolfgang Ruges Leben tiefgreifend. Der junge Familienvater wurde von Frau und Tochter getrennt. Er wurde, zusammen mit seiner neuen Lebensgefährtin Veronika, in das Gebiet von Karaganda nach Kasachstan deportiert. Wie so viele andere Sowjetbürger deutscher Nationalität traf ihn die unsinnige kollektive Verdächtigung aller Deutschen mit ganzer Härte.
1942 wurde er in ein Lager nach Sosswa in den Nordural verschickt. Erst nach Kriegsende lockerten sich die unmenschlichen Lebensbedingungen. Als Landvermesser beim Bau von Schmalspurbahnen und im Projektierungsbüro des Lagers tätig, durfte Wolfgang Ruge zur Eisenbahnverwaltung nach Swerdlowsk fahren. Dadurch ergab sich für ihn eine unglaubliche Chance: Er bemühte sich, unter Umgehung des Lagerregimes, sein Geschichtsstudium abzuschließen. Sein Überlebenswille versetzte Berge. An der Universität Swerdlowsk gewann er das Vertrauen einiger Professoren, und 1948 konnte er dort eine Arbeit über den Schwarzmeerhandel Genuas und Venedigs im Spätmittelalter als Diplomarbeit einreichen. Nach der schmerzlichen Trennung von Veronika lernte er seine spätere Frau Taja kennen, die ihm neue Hoffnung gab. 1954 wurde der Sohn Eugen (Shenja) geboren.
Im Februar 1956 konnte Wolfgang Ruge mit seiner Familie die Sowjetunion in Richtung DDR verlassen. Er bekam die Chance auf ein neues Leben als Wissenschaftler. Der kurz zuvor noch völlig Rechtlose wurde zum überaus produktiven Historiker, der im Akademie-Institut für Geschichte über die Promotion (1959) und Habilitation (1967) zum Professor aufstieg, 1987 in Jena ein Ehrendoktorat erhielt. Nach allem, was er erlebt hatte, glaubte er, die DDR als industriell fortgeschrittenes sozialistisches Land könne eine Vorreiterrolle bei der Überwindung des Stalinismus spielen. Diese Hoffnung erklärt sein Engagement für den ostdeutschen Staat, obgleich er dessen Mängel nicht übersah und sie kritisierte. Doch bedurfte es vieler Jahre und letztlich des Zusammenbruchs der DDR wie der Sowjetunion, um selbst ihm die Strukturdefizite ihrer Gesellschaften in ganzer Schärfe vor Augen zu führen.
Die rückhaltlose Auseinandersetzung mit diesen Defiziten bestimmte Wolfgang Ruges Arbeit seit 1989, wovon sein Buch Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte Zeugnis ablegt. Ehrlichkeit vor sich selbst und vor dem Freund war eine seiner Charaktereigenschaften. Sie zeichnete ihn ebenso aus wie sein – nach den Jahren des Grauens nie erloschenes – Bedürfnis nach Kunst- und Lebensgenuß. Wolfgang Ruge war in seiner Humanität stärker als Hitler und Stalin in ihrer Unmenschlichkeit. Zuletzt schwerkrank, ist er am 26. Dezember 2006 in Potsdam-Babelsberg verstorben.