Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 8. Januar 2007, Heft 1

Mehr Staat wagen

von Hajo Jasper

Sich heutzutage noch zum Staat zu bekennen, erfordert fast schon Mut zur Einsamkeit. Gar zu sehr weiß man sich umspült vom meinungshoheitlichen Mainstream, der mit liberaler Verachtung das Gesicht zur Faust ballt, wenn er diese Vokabel auch nur im Munde führt. Dabei muß man nicht einmal ein hartgesottener Etatist sein, um zu fragen, wes Geistes Kinder all jene sind, die für alle gesellschaftlichen Herausforderungen immer nur eine Reaktion parat haben: »Weniger Staaaat!« »Der Markt und das freie Spiel seiner Kräfte richten alles auf das Vortrefflichste!«
Bemühen wir im Kontrast dazu Joseph Stiglitz, dereinst Chefökonom der Weltbank. »Ich bin kein Anhänger des alten Big Government. Auch ein schlanker Staatsapparat kann das Notwendige tun«, sagt der Nobelpreisträger heute. Und fügt hinzu: »Wir brauchen eher eine andere Art von Regierungspolitik. Wir wissen heute, wo Märkte funktionieren und wo nicht. Märkte produzieren in manchem zu viel, wie etwa in Umweltverschmutzung, und in manchem zu wenig, etwa der Grundlagenforschung. Märkte sind nicht gerecht. Man hat behauptet, sie seien effizient. Heute wissen wir, dass sie nicht einmal das immer sind.«
Ausweise für die Eindimensionalität der Marktwirtschaft und ihre gesellschaftliche Ineffizienz gibt es reichlich. Der gravierendste dürfte ihr Unvermögen sein, der Kausalkette Produktion-Arbeit-Konsum einen gesellschaftlichen Sinn über den reinen Selbstzweck hinaus zu geben.
Nun ist es ja beileibe nicht so, daß die Wirtschaft die Notwendigkeit von Erwerbsarbeit negiert, denn ganz verzichten kann sie darauf schließlich auch heute noch nicht. Gerade erst stellt sie in Anbetracht der laufenden Hausse sogar wieder Leute ein, die Arbeitslosenzahl sinkt.
Nur eben: Das dem Krisenzyklus der Warenproduktion immanente Auf und Ab von Konjunktur und Rezession ist längst kein Regulativ mehr, mit dessen Hilfe den – zumal globalen – Anforderungen menschlicher Weiterentwicklung Genüge getan werden könnte. Der Entwicklungsstand der Wirtschaft in jener Ersten Welt, in der wir (noch immer) leben, erfordert längst andere Antworten als allein den pauschalen Ruf nach »mehr Arbeit«. Angehäufte Quantitäten in der stürmischen Entwicklung der Arbeitswelt sind in eine neue Qualität umgeschlagen. Schon lange übrigens; über uns obwaltet vermutlich das Phänomen, daß man reale Umbrüche am sichersten verkennt, wenn man ihrer teilhaftig ist.
Erwerbsarbeit im klassischen Sinn hebt sich im »entwickelten« Teil unserer Welt immer mehr auf. Die ungeheure Revolution von Wissenschaft und Technik samt ihrer atemberaubenden Dynamik macht klassisch definierte Arbeitsplätze massenhaft überflüssig. Wovon man im Realsozialismus, irrtümlicherweise als Signal seiner Überlegenheit, noch träumte, ist längst eingetreten: Produktivität erzeugt immer mehr Überfluß – an Waren und an verausgabter Arbeitszeit. Mehr und mehr tritt der Mensch aus seiner tradierten Rolle als Warenproduzent heraus. Was er diesbezüglich bisher leistete, können Automaten und Computer längst viel effizienter.
Das ist nicht einmal zu beklagen, danach strebt der Mensch seit alters her. Diese Entwicklung nur einfach abzulehnen, liefe auf nicht weniger als kindische Maschinenstürmerei hinaus. Die eigentliche Frage lautet – immer noch oder wieder einmal – jedenfalls mehr denn je: Für wen produzieren wir? Zu Nutz und Frommen des Menschen als einem gesellschaftlichen Wesen oder für den Privatier? Wer eignet sich das Ergebnis gesellschaftlich produzierter Arbeit an und zu welchem Zweck? Arbeiten wir, um im Konkurrenzkampf »unseren« Unternehmen zum Erfolg zu verhelfen oder um die Früchte dieser Arbeit möglichst vielen zuteil werden zu lassen?
Zumindest wer letzteres präferiert, bräuchte auch im Zeitalter überflüssig werdender Industrie- und bürokratischen Erwerbsplätze Produktivitätsfortschritt nicht zu fürchten. Denn Arbeit gibt es ja in der Tat mehr als genug: im Bereich der Bildung, deren Niveau einen jammert, ohne daß dies je einen Unternehmer wirklich gestört hätte. Im Bereich der Gesundheit, die längst zur Geisel der einschlägigen Industrie und ihrer angeschlossenen Verwaltungen geworden ist. Auch im Bereich der öffentlichen Sicherheit, deren tendenzielles Schwinden nicht zuletzt mit der Unbezahlbarkeit dort fehlender Kräfte entschuldigt wird. Im immer »unbezahlbareren« Bereich der Kultur, der mehr und mehr von einer gesellschaftlichen Angelegenheit zur alleinigen Angelegenheit der besseren Gesellschaft wird.
Gar nicht davon zu reden, daß die heutige Produktivität ja nicht nur nach einer Umverteilung von Arbeit verlangt, sondern auch ein Mehr an Freizeit als kultureller Fortschritt (!) ermöglicht. Freie Zeit, die des Menschen Dasein in vielerlei Hinsicht bereichern könnte, ohne sich in den naiven Vorstellungen eines Schlaraffenlandes zu verlieren, zumal der Zustand unserer Welt als Ganzes letzteres ohnehin auf längere Zeit ausschließt.
Aber spätestens da wären wir eben beim Staat angelangt; jenem Instrument, das die gesellschaftlichen Anliegen als einen interessenausgleichenden Gemeinwillen (so jedenfalls geht Demokratie) vertritt und dessen Realisierung zu organisieren hat. Wer solcherart Staatsbekenntnis als totalitarismusverdächtige Obrigkeitsgläubigkeit diffamiert, sollte sich hüten; wir wollen doch nicht mindestens vierzig Jahre Bundesrepublik zur staatskapitalistischen Diktatur umdeuten, oder?
Im Gegensatz zur Wirtschaft und deren Parteienlobby verweigert sich der heutig obwaltende Apparat schon aus einem existentiellen Eigeninteresse seiner angestammten Rolle keineswegs. Er verweist nur darauf, daß er alles nicht mehr bezahlen könne, was ihm abverlangt wird. Denn die Gewinne, die all jene machen, die klassische Arbeitsplätze vernichten, um konkurrenzfähig zu bleiben (für wen eigentlich?), fließen eben nicht teilhaberisch in die Kasse jenes Staates, der wir – ja, auch in der kapitalistischen Marktwirtschaft! – schließlich alle sind.
Wer anerkennt, daß die Arbeit einen gesellschaftlichen Charakter hat, wird um die Akzeptanz schwer umhinkommen, daß auch die Aneignung ihrer Ergebnisse der Gesellschaft zuzukommen hat – in einem wenigstens annähernd gerechten Ausgleich von individuellen und kollektiven Interessen und Potentialen. Dem organisierten Staat, wie er sich uns derzeit darbietet, kann man dieses Selbstverständnis nun wirklich nur noch residual unterstellen.
Ganz im Gegensatz zu den vorauseilenden Kotaus zeitgenössischer Politiker vor der Erpressungsmacht der Wirtschaft scheint deshalb nichts dringlicher als der Ruf: Mehr Staat wagen! (Wenngleich mit einem anderen Staatsverständnis als dem der Neoliberalen oder Obrigkeitsfanatiker.) Zumindest solange jedenfalls, wie dieser Staat dem Kapital auf seinem Pfad zu noch größerer Enthemmtheit im Wege zu stehen vermag. Denn daß diese Verwaltungsform der menschlichen Gesellschaft sich irgendwann in der Tat erübrigt, hatte sogar die kommunistische Lehre impliziert.
Und auch wenn dies scheinbar widersprüchlich klingt: Je internationaler ein solches Staatsverständnis, desto besser. Der Christdemokrat Heiner Geißler hat völlig recht, wenn er nach einer geordneten Wirtschaft ruft und danach, daß nicht über die ewige Reformen nachzudenken ist, sondern über das Wirtschaftssystem, das, so wie es ist, krank ist. »Nur Dummköpfe und Besserwisser«, so Geißler, »können den Menschen weismachen wollen, man könne auf die Dauer Solidarität und Partnerschaft in einer Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Warum wird tabuisiert und totgeschwiegen, dass es eine Alternative gibt zum jetzigen Wirtschaftssystem: eine internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb?«