Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 22. Januar 2007, Heft 2

Leichenfledderei

von Gerd-Rüdiger Hoffmann

Noch immer hängen im Osten des Landes Brandenburg vereinzelt Plakate, die dafür werben sollen, sich im Gubener Plastinarium »hinter den Kulissen« die Körperwelten des Herrn Gunther von Hagens persönlich anzusehen. Es wurde wohl vergessen, sie abzunehmen, und nun sehen sie jetzt noch häßlicher aus als in den Wochen vor Weihnachten. Da kamen gegen die Übermacht der Körperwelten-Werbung nicht einmal die hunderte Plakate mit spärlich bekleideten Frauen an, die auf »Weihnachtsmarkt-Events« aufmerksam machen sollten.
Auf der Webseite des Plastinariums gibt es noch immer den Geschenktipp des vergangenen Jahres: ein Gutschein für die Schau in Guben. Allerdings, gleich zu den Weihnachtsfeiertagen war das Geschenk nicht einzulösen. Da war zu, die Angestellten hatten frei. Sonst aber sind sie in Arbeit. Es ist in Guben nicht selbstverständlich, daß jemand Arbeit hat.
Wie heißt es bei Volker Braun in Was wollt ihr denn, dem Stück, das 2005 an der Senftenberger Neuen Bühne mit großem Erfolg uraufgeführt wurde: »… in Guben schämt sich jeder Zweite, der keine Arbeit aber Brot hat.«
Schämen sich heute Menschen, weil sie als gelernte Elektromonteure, Uhrmacherinnen, Bergbauingenieure oder Fachverkäuferinnen Arbeit als Leichenfledderer gefunden haben? Darf man danach überhaupt fragen? Schließlich haben die Stadtverordneten, der Landrat und Gerichte zugestimmt.
Die Verhältnisse sind eben so. Und Sachzwänge gibt es anderswo auch. Gegen Arbeit kann man nichts sagen. Darf man nichts sagen, schon gar nichts Moralisches – sagen nicht wenige mit starrem Blick auf demokratische Mehrheiten.
Richtig ist, die Menschen aus Guben und Umgebung, die dort arbeiten oder zu den weltweit über zwanzig Millionen Leichenschaubesuchern gehören, müssen sich von keiner moralischen Instanz in Acht und Bann treten lassen. Schon gar nicht müssen sie sich von gutbezahlten Nichtarbeitslosen verurteilen und an den Pranger stellen lassen. Doch mit anderen Meinungen und Haltungen sollten sie rechnen. Denn jede Menschlichkeit ist bedroht, wenn man nichts mehr gegen Unmenschlichkeit sagen darf. »Was wollt ihr denn«?
Natürlich sind es die Verhältnisse, auf die zu verweisen ist. Wissen wir doch, daß im heutigen Kapitalismus die einen nicht arbeiten dürfen, die anderen nicht wissen, wie sie vor lauter Arbeit durchhalten sollen. Da bleibt nicht sonderlich viel Platz für Moral. Selbst die parlamentarische Linke – in traditionell marxistischer Terminologie gesprochen – ist doch mehr damit beschäftigt, dafür zu arbeiten, daß mehr Menschen in Ausbeutungsverhältnisse kommen, als gegen die Ausbeutung selbst zu kämpfen. Soll ein Arzt jedes Mal verzweifeln, wenn er die zehn Euro auch von Patienten fordern muß, denen er ansieht, daß sie dieses Geld wahrlich für anderes brauchen könnten?
Oder die Soldaten bei der Bundeswehr … Für die hatte sich Professor von Hagens etwas Besonderes ausgedacht. Zur Entspannung der Lage nach der Veröffentlichung obszöner Fotos aus Afghanistan lud er alle Bundeswehrsoldaten bis Ende 2006 zum kostenlosen Besuch seiner Leichenschau ein. Dort könnten sie sich mit einem Skelett fotografieren lassen. In einer Pressemitteilung verteidigte von Hagens übrigens das Verhalten der deutschen Afghanistan-Krieger.
Bereits im April vergangenen Jahres ließ von Hagens mitteilen: »Um ausreichend Plastinate fertigen zu können, wird ab sofort bundesweit ein kostenloser Abholdienst für Leichen eingerichtet. Dieser Service wird großen Zuspruch finden, denn er ermöglicht Trauer ohne Sorge um Begräbniskosten.«
Gunther von Hagens, »einer der bekanntesten ›Republikflüchtlinge‹ aus der ehemaligen DDR«, vergleicht sich mit James Bond, der genau wie er als der einzelne Gute gegen das kollektive Böse ankämpft. Beide wären Kämpfer gegen den Kommunismus, die sich »durch ein Streben nach Erfolg um jeden Preis« definierten.
Außerdem, so lese ich auch noch auf der Webseite, das Plastinarium in Guben sei ein Beitrag zur »Demokratisierung der Anatomie«.
Gegen diese Mischung aus Unsinn, Technikgläubigkeit und skrupellosem Geschäftssinn muß es Widerrede und Widerstand geben.
Widerrede gegenüber Leuten, die sich – aus welchen Gründen auch immer und ganz gleich, ob es viele oder wenige nur sind – auf von Hagens’ Leichenfledderei einlassen, muß erlaubt sein. Baruch Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670) wurde verboten, weil er unter anderem klar aussprach, daß vernünftiges Denken und Handeln sich um die Pole Politik und Ethik drehen. Moralisches Handeln ist an Erkenntnis gebunden, nicht an Quote. Mehrheit und Wahrheit passen nicht immer zusammen.
Dieser Gedanke ist vielleicht ein entscheidender Beitrag Spinozas zur Demokratietheorie bis heute. Aber, so Spinoza, im Unglück wüßten viele Menschen nicht, wohin sie sich wenden sollten. »Dann flehen sie Jedweden um Rath an und folgen selbst den verkehrtesten, unsinnigsten und eitelsten Vorschlägen.«
Und Widerstand ist nötig. Vor allem sollte es als normal gelten, ein gegen dieses Tun gerichtetes Menschenbild aktiv zu lehren. »Arbeit um jeden Preis« oder »Erfolg um jeden Preis« dürfen nicht Maximen des Humanismus werden. Das wäre zynisch. Das ist der Zynismus des von Hagens’. Wenn irgendwo ein abgehängtes oder umgedrehtes Körperwelten-Plakat zu finden ist, so wird es mich freuen.
Der erste Satz im Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieser Satz ist nach meiner Auffassung mit aller Macht gegen das Menschenbild dieses Plastinators in Anschlag zu bringen.
Es geht mir durchaus auch um die Achtung der Schöpfung. Eine vulgärmaterialistische Denkweise, die Gunther von Hagens als Segen und konsequente Christen als Störfaktor ansieht, ist mir zuwider. Kritische Christen, Anhänger Spinozas, philosophisch denkende Marxisten oder auch nur Leute mit gesundem Menschenverstand sind mir sehr viel näher als Atheisten, die glauben Gott, spielen zu dürfen.
Geschäftemacherei mit Leichen durch das Erwecken niedrigster Instinkte oder auf der Grundlage einer Politik, die nichts mehr an moralischen Bedenken gelten lassen will, sobald es um die Schaffung oder den Erhalt von Arbeitsplätzen geht, ist einfach nur abzulehnen.