Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 22. Januar 2007, Heft 2

Der Ohrstöpselboom

von Margit van Ham

Plötzlich waren die Ohrstöpsel knapp. Niemand wußte, wie das hatte geschehen können. In den Zeitungen häuften sich Annoncen: Suche Ohrstöpsel, biete … Auch das Internet war voll mit Suchanzeigen. Es gab jedoch nur wenige Menschen, die Ohrstöpsel anboten. Die zwei Ohrstöpselhersteller im Land zwischen Meer und Bergen sahen sich förmlich überrollt von Aufträgen. Sie stellten sogar neue Mitarbeiter ein. Einige Journalisten meinten daraufhin, ein Jobwunder ankündigen zu dürfen.
In Medien und Politikerkreisen wurde über das neue Phänomen gerätselt. Die Wirtschaftverbände bestellten Gutachten über die zu erwartende Nachfrage und forderten Investitionshilfen des Staates, um weitere Produktionsstätten errichten zu können. Um Politiker, Medien- und Wirtschaftsvertreter öffentlich über diese Entwicklung diskutieren zu lassen, wurden Talkshows und Konferenzen veranstaltet. Leitartikel folgte auf Leitartikel. Alle Verlautbarungen folgten altbewährten Schemata: Zunächst wurde die Schuldfrage gestellt. Je nach Lager waren die Regierung, die den Trend verschlafen hatte, die Wirtschaft oder die destruktive Opposition schuld am Fehlen der Ohrstöpsel.
Alle aber fanden mahnende Worte an den Bürger, doch in seinem Konsumverhalten flexibler zu sein. Doch selten kam eine Diskussion über die Schuldfrage hinaus und wenn, dann wurden flugs alte Hüte zu neuen Erfolgsrezepten aufgeblasen.
Da sie es gewöhnt waren, ihre eigene Diskussion als öffentlichen Diskurs zu werten, fiel ihnen zunächst gar nicht auf, daß niemand mehr zuhörte. Die Bürger hatten über die Jahre die Nase voll von dem gebetsmühlenartigen Geschwätz der Talkshow-Eliten. Politikern der unterschiedlichsten Couleur hatten sie in Wahlen eine Chance gegeben und waren nunmehr kuriert von der Ansicht, daß auch nur einer meine oder gar tue, was er sage. Und die Medien waren so verliebt in ihre Rolle, daß sie verlernt hatten, wirkliche Sorgen aufzugreifen. Sie spielten einfach die Politikspielchen mit, schwafelten bedeutungsvoll mal in die eine, mal in die andere Richtung – ohne etwas zu sagen. Willig griffen sie jedes Thema auf, das ihnen von Wirtschaft und Politik geboten wurde. Und manchmal schwoll ihnen der Kamm, weil sie ein Thema erfunden hatten, an dem sich die Politik heißmachte und der scheinbar öffentlichen Meinung der Medien folgte. Das ganze war schließlich so eingeübt worden, daß der Bürger nur noch eine Überschrift zu lesen oder hören brauchte, um zu wissen, was folgen würde.
Es war vermutlich Otto M., der damit angefangen hatte, sich vor leerem Geschwätz zu schützen. Er kaufte Ohrstöpsel. Wann immer Meldungen und Talkgeschwätz sich über ihn ergießen wollten, setzte er die Ohrstöpsel auf. Er hatte riesiges Vergnügen daran, den Politikern ganz andere Worte in den Mund zu legen. Er führte seinen Freunden diese Praxis vor, die der vergnügliche Vorteil dieses Vorgehens sofort überzeugte. Innerhalb weniger Wochen hatte sich das neue Gesellschaftsspiel ausgebreitet, und die Ohrstöpsel waren knapp geworden.
Nachdem die Medien mit einiger Verzögerung die Gefahr für ihr Geschäft erkannt hatten, wurde hektisch daran gearbeitet, alle Sendungen mit Untertiteln zu versehen. Eine völlig neue Technik war zu entwickeln, um möglichst zeitnah zum Ton die Untertitel bereitzustellen. Einige Zuschauer überklebten daraufhin den unteren Rand ihres Fernsehgerätes. Andere entschieden sich für eine radikalere Lösung: Sie schafften ihr Fernsehgerät ab; einzelne genervte Zeitgenossen entledigten sich sogar der Radiogeräte. Eine entschieden positive Wirkung war die überraschende Feststellung, daß man plötzlich viel Zeit hatte. Die negative Wirkung war, daß die »lieben Bürger« nunmehr von ihren Politikern mit Briefsendungen bombardiert wurden. In den Briefen wurde »die Ethik des Zuhörens« behandelt; vielen Bürgern wurde beim Lesen ganz übel. Alsbald wurden Briefe verdächtigen Inhalts nicht mehr geöffnet und Zeitungen mit an die Bürger gerichteten Moralpredigten nicht mehr gekauft.
Da erfaßte die Politiker und die Medienmenschen Panik, und die Wirtschaftsvertreter hatten selbstverständlich schon immer gewußt, daß man mit Geschwätz keine Politik machen könne. Ein junger Politiker schlug vor, zu fragen, warum die Bürger nicht mehr zuhören wollten. Dieser Vorschlag traf auf absolutes Erstaunen, dann auf schärfste Kritik aller Parteien und wurde erschrocken zurückgezogen. Breite Zustimmung hingegen erhielt die Idee, sich nunmehr volksverbunden zu zeigen und selbst mit Ohrstöpseln in die Öffentlichkeit zu gehen. Da dies jedoch die Ohrstöpsel weiter verknappen würde, wurde zugleich ein großes Investitionsprogramm zur Herstellung von Ohrstöpseln mit dem programmatischen Titel Gemeinsam stöpseln – wir sind ein Ohr beschlossen. Otto M. befiel ein nachhaltiges nervöses Lachen und er zog – ohne seine Adresse zu hinterlassen – aufs Land.