Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 11. Dezember 2006, Heft 25

Wählen im Spätkapitalismus

von Erhard Crome

Wenn es bei den US-Präsidentenwahlen im Jahre 2000 mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte der Präsident Al Gore heißen müssen – und der Menschheit wäre vieles von dem erspart geblieben, was ihr seither George W. Bush und seine Kumpane angetan haben. Der damalige Fehler Gores und seiner Anwälte bestand darin, die Nachzählung der Stimmzettel nur in einigen der umstrittenen Wahlbezirken des Staates Florida zu erwirken, in dem Bruder Jeb Bush der Gouverneur war und alle Spatzen von den Dächern »Schiebung« pfiffen. Wäre in ganz Florida neu gezählt worden, hätte das Ergebnis gelautet: Bush 2915130 Stimmen und Gore 2915245 Stimmen, also 115 Stimmen mehr – und Gore wäre der Präsident gewesen.
Das hat jedenfalls eine nachträgliche Auszählung aller Wählerstimmen ergeben, die im Auftrage von zehn großen Tageszeitungen und Nachrichtensendern vorgenommen und im November 2001 veröffentlicht wurde. Nach dem landesweiten Patt der Wahlmännerstimmen entschied das Ergebnis von Florida, und das erfolgte im November 2000 bekanntlich durch die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts zugunsten von Bush.
Danach wurde nicht etwa darauf gedrungen, künftig genauer zu zählen, sondern die Spuren besser zu verwischen: Wenn es keine Wahlzettel mehr gibt, kann später nicht nachgezählt werden. So beschloß das US-Parlament nach den Wahlen von 2000 mit seiner republikanischen Mehrheit die Einführung »moderner, sicherer Wahlmaschinen«. Der Bundesstaat Georgia beispielsweise investierte 54 Millionen Dollar in die Anschaffung von 19000 Wahlcomputern, die von einer Firma Diebold geliefert wurden. Bei den sogenannten Midterm-Wahlen – der Wahl in der Mitte der Amtszeit eines Präsidenten, bei der stets alle 435 Abgeordneten des US-Repräsentantenhauses, ein Drittel der hundert Senatoren und etliche Gouverneure der Bundesstaaten gewählt werden – im Jahre 2002 ordnete Diebold-Chef Walden O’Dell kurz vor dem Wahltag die Auswechselung von etwa fünftausend Memory-Karten in Wahlcomputern an. Zufällig standen die alle in Wahlkreisen, die als der demokratischen Partei zugeneigt galten.
Nach dem Wahltag rieben sich die demokratischen Kandidaten für den Senatoren- und den Gouverneursposten die Augen, weil entgegen allen Umfragen die Republikaner als Sieger ausgewiesen wurden. Dem Betrugsvorwurf wurde mit dem schönen Argument der Firma begegnet, die Wahlcomputer seien »absolut hackersicher«. Das war ja nicht einmal falsch, wenn man davon ausgeht, daß die Firma selbst die entsprechenden Ergebnisse vorprogrammiert hatte.
Bei den Präsidentenwahlen 2004 entschied der Staat Ohio die Präsidentenwahl zugunsten von Bush und gegen den Demokraten Kerry. Letzterer lag nach allen Umfragen in Ohio vorn, wie durch ein Wunder gewann jedoch wiederum Bush – die Wahlcomputer kamen von der Firma Diebold. Nachdem auch Informatiker der berühmten Harvard-Universität den Betrugsvorwurf gestützt hatten, trat der Diebold-Chef Ende 2005 »aus privaten Gründen« zurück. Ende September dieses Jahres demonstrierten renommierte Computerwissenschaftler einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß in Washington, wie leicht eine Diebold-Wahlmaschine zu manipulieren ist. Die Firma versuchte abzuwiegeln: Es sei ein altes Modell präsentiert worden, die neuen seien weiterentwickelt. Ein solches konnte jedoch »aus Sicherheitsgründen« nicht zur weiteren Prüfung zur Verfügung gestellt werden.
Man darf also getrost davon ausgehen, daß die diesjährigen Midterm-Wahlergebnisse vom 7. November, nach denen die Demokraten erstmals seit zwölf Jahren wieder eine Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses erzielten, in Wahrheit noch viel deutlicher gegen Bush wiesen, als offiziell mitgeteilt wurde. Allerdings wurde wieder allenthalben von »Unregelmäßigkeiten« berichtet; vor allem in Florida waren wieder viele Stimmen, die für die Demokraten abgegeben wurden, den Republikanern zugeordnet – Jeb Bush konnte nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten, aber wohl den Gang der Dinge noch einmal beeinflussen.
Inzwischen wurde bekannt, daß derlei Dinge nicht nur im fernen Amerika stattfinden, sondern auch im nahen Europa. In guter Erinnerung ist noch, daß Berlusconi tagelang das Wahlergebnis zugunsten von Prodi und der Linken in Italien nicht anerkennen wollte. Dort war Prodi mit fünf Prozent Vorsprung der Favorit. In der Wahlnacht zeigten die Computer des Innenministeriums jedoch einen scheinbar unaufhaltsamen Anstieg des Stimmenanteils für Berlusconi an. Dann gab es offenbar hektische Telefonanrufe. Prodi und seine Mitarbeiter hatten wohl Wind von der Manipulation bekommen, und der damalige Innenminister Pisanu stoppte in der Wahlnacht ohne Wissen Berlusconis das Manipulationsprogramm. Und so verfiel der Betrüger am Morgen danach auf die Idee, er sei betrogen worden.
In Italien bestand der Betrug offenbar darin, daß unangekreuzte Wahlzettel – seit Jahren Ausdruck des Protestes; meist etwa fünf Prozent der abgegebenen Stimmen – im Computer des Innenministeriums der Berlusconi-Partei Forza Italia zugewiesen worden waren. Im offiziellen Wahlergebnis waren es diesmal wundersamerweise nur 0,5 Prozent.
In den USA werden die Wahlen vor Ort in den Wahllokalen, zugunsten der Rechten manipuliert, in Italien in der Zentrale. Die Stelle des Wahlbetruges hängt augenscheinlich vom Charakter des jeweiligen Wahlsystems ab. Das weiter zu untersuchen, wäre fürwahr ein schönes Thema für politkwissenschaftliche Analysen. Aber das wird sobald wohl niemand machen wollen.
Fest steht schon jetzt, daß diese Art von Wahlfälschung Ausdruck des Demokratieabbaus in Zeiten neoliberaler Vorherrschaft ist. Je konzentrierter international die Macht der großen Gelder, desto mehr stört die Demokratie. Umgekehrt heißt das: Diejenigen Demokraten, die noch immer glauben, daß Wahlen etwas bedeuten und es allgemeine, gleiche und geheime Wahlen sein sollten, müssen mit Zähnen und Klauen den handschriftlich ausgefüllten, übersichtlich ankreuzbaren Wahlzettel verteidigen, der so lange aufbewahrt werden muß, bis auch der letzte Zweifel an der Redlichkeit des Verfahrens ausgeräumt ist. Mit anderen Worten: Wer uns die papierlose Wahl einreden will, meint eigentlich die Einführung von Verhältnissen à la Bush oder Berlusconi.