Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 25. Dezember 2006, Heft 26

Unter Immortalisten

von Helmut Höge

»Ich fühle nichts als eine gewisse
Schwierigkeit zu existieren.«
Der Philosoph Fontenelle auf dem Totenbett

Es ist komisch, um mich herum wird immer öfter über das Altern geredet. Vor einiger Zeit traf ich mich sogar einmal – im Blauen Affen am Hermannplatz – mit zwei älteren Immortalisten. Sie machen da weiter, wo ihre russischen Vordenker einst aufhören mußten.
In der Regierungszeitung Iswestija hatten sie noch 1922 erklärt: »Wir stellen fest, daß die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.« Und da ist sie auch heute noch. Wobei das vor allem für die Reichen gilt, die Vermögen angehäuft haben – und nun möglichst lange etwas davon haben wollen.
Die Armen sind dagegen wahrscheinlich eher froh, wenn ihr Lebenskampf sich nicht ewig hinzieht. Für beide gilt jedoch das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – insofern alle Organismen zwar dazu neigen, mit »Zinseszinsen« zu wachsen, weil das, was durch Wachstum gebildet wird, selbst zu weiterem Wachstum fähig ist, aber der »Zinssatz« fällt –, weil der Organismus mit einem von Jahr zu Jahr niedrigeren Zinssatz akkumuliert.
Irgendwann wollte ich von den beiden Neuköllnern wissen, warum die Nazis uralt werden, die Linken dagegen wie die Fliegen umfallen. »In einer Welt, die nur die Jugend achtet, sind die Menschen nach und nach aufgezehrt«, meinte der eine, Hans, wobei er sich auf Houellebecq bezog. Das erinnerte den anderen, der Dirk hieß, an die Kamtschadalen. Bei denen dienten früher die Alten zuletzt noch einmal dem Gemeinwohl, indem sie sich von den Jungen aufessen ließen.
»Nein, aber im Ernst: Wahrscheinlich leben die Nazis hier einfach in einem optimalen Milieu.« Biologisch treffe jedoch für alle gleichermaßen zu, daß ihre Körperzellen – so wie auch die Einzeller, die sich durch Teilung reproduzieren – potentiell unsterblich sind. »Es kann also nur an ihrer nachlassenden Kommunikation und Koordination untereinander liegen«, fügte Hans hinzu, wobei er unsere Körperzellen meinte und nicht die Nazis beziehungsweise die Linken.
Dirk fiel dazu ein: »Fische altern nicht, sie werden nur größer.« Im übrigen gäbe es in der Natur eigentlich sowieso nicht das, was wir einen »natürlichen Tod« nennen. Dieser sei ein Haustierphänomen. »Senilität ist ein Kunsterzeugnis der Zähmung. Wie übrigens auch das Gegenteil: der kindliche Gesichtsausdruck bis ins hohe Alter. Die wilden Tiere werden früher oder später fast alle gefressen, wobei diese Gefahr mit wachsendem Alter steigt, obwohl sie zugleich auch schlauer werden. Der mittlere Lebensabschnitt ist jedoch auch für uns Menschen der beste …«
»Das sehen die Lebensversicherungsgesellschaften bestimmt genauso«, unterbrach ich ihn. Hans wollte daraufhin wissen, ob die Versicherungen auch prämienmäßig berücksichtigen, daß es entgegen unserer Vorstellung in Wirklichkeit so sei, daß wir »unser Leben mit einer Periode extrem schnellen Verfalls beginnen und es mit einem sehr langsamen und sehr geringen Verfall beenden«.
Darauf wußte ich keine Antwort. Wegen dieses »geringen Verfalls« seien sie, die Immortalisten, ja gerade so optimistisch – was die Fortschritte der Zellforschung und der Ersatzteil- beziehungsweise Organimplantation betrifft, fügte er hinzu. »Vilém Flusser hat das einmal so gesagt: Das Zeitalter der wahren Kunst beginnt erst mit der Herstellung selbstreproduktiver Werke. Und dort beginnt auch die Freiheit, wenn man Houellebecq glauben darf. Zumindest kann man bei geklonten Lebewesen, genauso wie bei eineiigen Zwillingen, problemlos jedes Gewebe transplantieren. Kein Tod ist ›natürlich‹, niemand stirbt lediglich an der Last der Jahre.«
Aber diese »wachsende Last«, wagte ich einzuwenden, sei doch »natürlich«. Wo könne man das besser als in Neukölln beobachten?! Diese Bemerkung wurde von meinen Gesprächspartnern als der Sache »nicht besonders dienlich« abgetan – es war ihnen sehr ernst damit. Deswegen verkniff ich es mir auch, sie abschließend mit Matthäus zu fragen: »Wer aber unter Euch vermag dem Maß seines Lebens auch nur eine Elle hinzuzufügen?« Ihr Ernst selbst schien mir bereits etwas Lebensverlängerndes zu beinhalten.