Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 27. November 2006, Heft 24

Sarmatien

von Klaus Hammer

Sarmatien nannten die alten Völker vor der Zeitenwende die weiten, fernen, fremden Länder des Nordens und Nordostens, östlich der Weichsel und der Karpaten. Der Dichter Johannes Bobrowski erweckte diesen längst vergessenen Namen zumindest in der Dichtung wieder zu neuem Leben. Die sarmatische Welt stand für ihn in einem dreifachen Bezug: für die Landschaft seiner Kindheit, für die ganze Welt des Ostens, mit der die Deutschen durch Schuld und Sühne verknüpft sind, und sie wurde ihm schließlich zu einem perspektivischen Modell einer west-östlichen Einheit überhaupt. Bobrowski trug sich mit dem Gedanken einer »lyrischen Enzyklopädie des Ostens«, den er unter dem Arbeitstitel Sarmatischer Divan lange Zeit verfolgte.
Einen bisher noch kaum richtig zur Kenntnis genommenen, aber überaus gewinnvollen Beitrag zur politisch-geographischen wie dichterischen Vermessung der Sarmatischen Landschaften leistet eine von dem Journalisten und Schriftsteller Martin Pollock, einem Kenner Polens, herausgegebene Textsammlung über den Osten heute. Er hat Autoren aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland, die alle nach 1945 geboren wurden, eingeladen, »in Essays, Reportagen und Erzählungen diesen Raum zu beschreiben, in seinen geschichtlichen, aber auch und vor allem in seinen gegenwärtigen Dimensionen, das Verhältnis der ›sarmatischen‹ Nachbarn zueinander zu skizzieren … und Verbindendes wie Trennendes aufzuzeigen«, schreibt er im Vorwort. 23 Autoren sind seiner Einladung gefolgt und haben Persönliches und historisch Fundiertes, Widersprüchliches und Gegensätzliches, Spannendes und Nachdenkliches geschrieben, ein Kaleidoskop der Meinungen. Alle beschäftigen sie sich mit der Suche nach der eigenen Identität und der Identität ihrer Länder sowohl in der Geschichte als auch im Heute. Und alle sind sich einig: Das Sarmatien von heute ist im Aufbruch, hier vollziehen sich Entwicklungen, die die Aufmerksamkeit des Westens erheischen.
Noch zu Zeiten des sowjetischen Imperiums kümmerte es den Westen wenig, daß dieses aus besetzten größeren und kleineren Staaten bestand, schreibt der litauische Dichter Sigitas Parulskis, in denen Menschen lebten, die ihre eigene Sprache, Traditionen, Geschichte und auch einige andere Ambitionen und Mentalitäten hatten. Und er erzählt eine genealogische Mythologie, die sich sehr »sarmatisch« anhört. Der Autor hatte in der sowjetischen Armee gedient und war in der DDR stationiert. Für die Deutschen war er ein Russe, ein Kommunist und Besatzer, doch die Russen hielten ihn für einen Deutschen, weil sie die baltischen Länder mit dem Westen gleichsetzten.
Aber seine Familie stammt eigentlich aus dem Norden des damaligen Österreich-Ungarn, aus Krakau, ein Zweig kam auf heute weißrussisches Gebiet und wanderte dann in den litauischen Westen weiter. So fließt in den Adern Parulskis wohl das Blut aller Völkerschaften, die hier gelebt haben. Aber dennoch identifiziert er sich mit der Sprache, in der er über die Welt nachdenkt, der litauischen. Es ist die Sprache seiner Eltern und Großeltern, die aus der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte oder Träumen und Aberglauben in ihn eingedrungen ist, »aus den tiefsten Nebeln Sarmatiens«.
In diesem Teil Europas, so führt der ukrainische Essayist und Übersetzer Jurko Prohasko aus, lebt noch das Gefühl einer alten Gemeinsamkeit zwischen Polen, Litauen, Weißrußland und der Ukraine. Dieses Gefühl leite sich aus der alten polnisch-litauisch-ruthenischen Adelsrepublik, der ersten Rzeczpospolita, her, dieser seit langem versunkenen Großmacht. Dort lägen die Wurzeln ihrer Identitäten und Fremdbilder, stellt der Autor fest. So gäbe es noch so etwas wie den Geist der damaligen Epoche, ein gemeinsames System von Idealen, Werten und Überzeugungen, Verhaltensmustern, Einstellungen im Kopf und im Herzen. Als eine Kompromißkultur konnte die sarmatische Zivilisation zwischen so verschiedenen nationalen, ständischen, ethnischen, religiösen, konfessionellen, sprachlichen Komponenten, zwischen westlichen und orientalischen Optionen über eine lange Zeit einen gemeinsamen Kontext schaffen, der bis heute als ein Gefühl der Gemeinsamkeit erhalten habe.
Der 1. Mai 2004 habe in der Architektonik Europas einen Erdrutsch ausgelöst, resümiert der ukrainische Dichter Juri Andruchowytsch. Ostmitteleuropa, das fast ein halbes Jahrhundert unbeweglich und unveränderlich zwischen zwei eisernen Vorhängen festzusetzen schien, spürte, wie es von seinem kanonischen Territorium verdrängt wurde – dem Territorium der neuen Mitgliedsstaaten der EU. Die Ambiguität, das »Dasein dazwischen«, verschwinde auf allen Ebenen. Tschechien, Polen und die baltischen Länder habe man eingeladen, Teil des Westens zu werden. Ukraine, Belarus und Moldawien dagegen seien heute »Länder dazwischen«. Ostmitteleuropa drifte in östlicher Richtung über ukrainisches Territorium. Ostmitteleuropa habe sich orange gefärbt und sich im Nordosten bis an die russische Grenze ausgedehnt. In dieser Richtung habe es sein Ausdehnungs- und Wanderpotential ausgeschöpft. Was bleibt, sei die südöstliche Richtung – Dreamland Sarmatien.
Der Berliner Autor Reinhard Jirgl beschäftigt sich in einem profunden Beitrag mit dem umstrittenen Heimat-Begriff, in dem er eine »Ressource« angesichts der heutigen Globalisierung, bei der Integration heterogenster Bevölkerungen und Mentalitäten sieht. Denn der Begriff umspanne sowohl die biographische Herkunft im regionalen und sozialen Kontext einer Person als auch im umfassenden Sinn deren Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk, einer Nation – mitsamt den hierfür spezifischen kulturellen Determinanten. Heimat formuliere sich darüber hinaus für jeden Menschen zum nicht veräußerbaren, am frühesten prägenden Erfahrungsraum, seinem einzig wirklichen Eigentum. Es sei der individuelle Anteil an der Erarbeitung von Welt.
Diese Sammlung, die noch durch weitere wertvolle Texte, Erzählungen und Gedichte bereichert wird, hilft, unseren Blick zu schärfen, Klischees und Vorurteile abzubauen – etwa die Polarisierung postmoderner Westen versus vormoderner Osten –, Verständnis und Begegnung zu fördern, zu begreifen, daß Westen und Osten im Sinne Bobrowskis eine Einheit darstellen: Der eine kann ohne den anderen nicht sein.

Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. Herausgegeben von Martin Pollack. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2006, 361 Seiten, 28 Euro. Diese Anthologie ist zeitgleich im Verlag CZARNE (Sekowa) in polnischer Sprache erschienen.