Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 27. November 2006, Heft 24

Angst

von Max Hagebök

Es ist Herbst. Morgens sitze ich im Lampenlicht, trinke meinen Kaffee und schaue in den Fernseher. Da meine Frau schon gegen halb Sieben zu ihrem Siebzig-Stunden-Halbtagsjob unterwegs ist, helfen die Sprecher des Frühstücksfernsehens von ARD/ZDF und SAT.1 als meine Beglücker aus. Mit eigenen Kommentaren verkürze ich mir meine Zeit. Natürlich ist mir die Komik der Situation bewußt, daß ein in die Tage gekommener Mann im Bademantel sich mit der Bildröhre unterhält. Doch da kein Alkohol mitspielt, sehe ich dieser Entwicklung mit der nötigen Gelassenheit zu. Mein zeugenloses Tun ist somit inhaltsleer und ziellos.
Darin stimme ich mit dem größten Teil der deutschen Bevölkerung überein. Denn mit verkaterter Miene sitzen die Wähler aller Parteien vor den Nachrichten und kommentieren die von ihnen gewählte Katastrophe. Ihnen wird dabei klar, daß alle bisher denkbaren Formen der Demokratie auf der Müllhalde der Geschichte gelandet sind oder in Bälde dies tun werden. Mit politischer Migräne bedient, verbleibt das verblüffte Volk in angstvoller Hypnose.
Diese wunderbare Erkenntnis verdanken wir der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die unter allen politischen und moralischen Bedürfnissen verlaufende Diskussion zum Prekariat oder zur Unterschicht ist jedoch einfach lachhaft. Denn deren Studie Gesellschaft im Reformprozeß wird seit Wochen auf ein Ergebnis reduziert. Sie lenkt, von den Demagogen gewollt und von Naivlingen wieder einmal bedient, von einer politisch brisanteren Aussage ab. Danach machen 63 Prozent der Bevölkerung die gesellschaftlichen Veränderungen Angst. Daß 46 Prozent ihr Leben als ständigen Kampf und 44 Prozent sich vom Staat alleingelassen fühlen, rundet ein Psychogramm mit unerkanntem politischen Sprengstoff ab.
Keiner der politischen Akteure, weder rechts noch links, hat Antworten für diese um sich greifende Angst und Machtlosigkeit. Palavernde Soziologen und dozierende Politiker versuchen zwanghaft, eine Wirklichkeit zu erfinden, die sie dem Volk zum Glauben vorsetzen. Doch der Zug ist abgefahren. Die Angst nistet in jedem Haushalt. Neben den materiellen Abstürzen gehören gesundheitliche Risiken, rentenpolitische Schweinereien und terroristische Alltäglichkeit zum Bedrohungsszenario.
Wir leben in einer Zeit, in der der Gründungskonsens der sozialen Marktwirtschaft von den Wirtschaftsführern und Politikern aufgekündigt worden ist. Er bestand darin, daß das systemkonforme Verhalten des einzelnen sowohl von der Gesellschaft als auch von den Firmen honoriert wurde. In diesem Punkt ähnelten sich die DDR und die Bundesrepublik. Doch damit ist endgültig Schluß.
Mit der einseitigen Kündigung werden die politischen Mechanismen der alten Republik schrittweise lahmgelegt. Die demonstrierenden Gewerkschaftsmitglieder dürfen weiterhin mit schönen Plakaten auf den Konsumstraßen flanieren und sich revolutionär gebärden, denn sie sind frei von jeder Macht. Das Wortgestammel ihrer Helden ist ohne Wert. Adios Kameraden.
Die Welt dreht sich jetzt im Takt der Börsen und der Korruption. Mit den Mitteln der alten Demokratie ist dies nicht aufzuhalten.
Das zu begreifen, ist die Bevölkerung allemal klug genug. Deshalb hat sie Angst. Schon entstehen die ersten Mahnmale einer widerständlerischen Wut. Die Nazis leben von dieser Wut. Und dies zunehmend besser – weil sich keine neue emanzipatorische Bewegung aufmacht, um den neuen Herren kraftvoll Einhalt zu gebieten.
Neue demokratische Formen werden verlangt, die das jetzige gesellschaftliche System radikal aufräumen. Ein Erfolg wäre es schon, wenn es gelänge, die demokratischen Grundwerte zu sichern und das Grundgesetz der Bundesrepublik mit Leben zu erfüllen. Allen Gewaltbefürchtern sei gesagt, daß dieser Staat seit einigen Jahren gewalttätig wie nie gegen die ihm ausgelieferte Bevölkerung vorgeht. Das Eigentum der Mehrheit ist keinen Euro wert. Schamlos bedienen sich Oligarchien aus Politik und Wirtschaft am Spargroschen derer, denen sie dienen sollen.
Jeder, der künftig emanzipatorische Politik machen will, wird den Krieg gegen die Mehrheit zu den Verursachern zurückbringen müssen. Dazu bedarf es keiner Gewalt, sondern Kreativität und Mut. Aus ihnen werden die radikalen Formen entstehen, mit denen sich das gerechte Anliegen einer Mehrheit transportieren und durchsetzen ließe.
Der Plan für eine andere Welt muß von denen, die unmittelbar betroffen sind, entworfen werden. Nur dann wächst eine Chance auf eine gerechtere Welt. Nur dann würde die Linke auch wieder die Verhältnisse tanzen lassen und die heute verängstigten Massen zum Ball führen.