Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 30. Oktober 2006, Heft 22

Enzyklopädie des Ostens

von Erhard Weinholz

Erstes bis 30., 1. bis 40. Tausend, sie wurden in hoher Auflage verbreitet, die Passat-Broschüren mit dem bunten Umschlag. Denn Passat sollte Lebenshilfe für jedermann bieten. Dieser Anspruch macht die Reihe für heutige Leser zu einem durchaus mit Vergnügen zu studierenden Zeitdokument.
Das erste Nachkriegsjahrzehnt und ein paar Jahre dazu hatte man im Osten mit Müh’ und Not bewältigt; nun, gegen Ende der Fünfziger, verhieß moderne Technik, zu Volkes Nutzen angewandt, endlich bessere Zeiten: Wohlstand, Brot und Schönheit dank Chemie, Energie im Überfluß durch Nutzung der Kernenergie; das Fernsehen brachte die Welt ins Haus, statt zu schuften, steht man am Schaltpult automatisierter Anlagen. Wie das funktionierte oder funktionieren sollte, wurde bei Passat allgemein verständlich erklärt. Farbenfrohe Leichtgewichte, Chemie ist Trumpf, Start ins Atomzeitalter, Elektronen am Werk, so einige der ab 1958 erschienenen Titel.
Eine ähnliche Reihe gab in jenen Jahren die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse heraus: Neue Technik – leicht verständlich, wie Passat ein Gemeinschaftsunternehmen mehrerer Verlage. »In der Landstadt von morgen. Interessant für jeden, der wissen will, wie das Dorf im Jahr 2000 aussehen wird«, kündigte der Verlag für Bauwesen eines der Hefte an. Das Jahr 2000 war damals eine magische Marke und, jedenfalls auf dem Papier, geradezu allgegenwärtig. »Ein Rollbürgersteig befördert uns direkt zur Abfertigungshalle … Automatisch öffnet sich eine Tür zum Landeplatz … Wenige Minuten später haben wir in der Kabine des Helikopters Platz genommen«, und los geht es – in eben diesem Jahr 2000 – Mit Hubschraubern zur Häuserfabrik. Für »den Menschen des Jahres 1960«, dies das Erscheinungsjahr, war »die Zukunft kein unlösbares Rätsel mehr«. Solche Fortschrittshoffnung, wenn nicht gar -gläubigkeit war im übrigen in Ost und West gleichermaßen anzutreffen; im Osten verband sie sich mit der zu dieser Zeit noch eifrig propagierten Idee des Kommunismus. Versinnbildlicht wurde dieser Fortschritt gern mit Autos, deren riesige Heckflossen vor allem den Zweck hatten, nach dem kommenden Jahrtausend auszusehen.
Auch wenn vieles in den einschlägigen Broschüren und Heften beider Reihen wissenschaftlich fundiert war – das Bewußtsein für die Probleme, die Risiken der erträumten Entwicklung fehlte fast völlig. Von den Grenzen des Wachstums, von Atommüll und Waldsterben war erst Jahre später die Rede. Selbst Reimar Gilsenbach, später einer der Vorkämpfer der ökologischen Bewegung hierzulande, schwärmte in Band 49 der Passat-Bücherei, Herren über die Wüste, noch von dem Plan, die sibirischen Ströme Ob und Irtysch zu Bewässerungszwecken nach Süden umzuleiten – die Folgen wären wahrscheinlich verheerend gewesen.
Mit dem damaligen Leben des DDR-Bürgers hatten Atomkraft, Weltraumfahrt und vollautomatische Fabriken aber nur wenig zu tun. Der hatte andere Fragen und Sorgen: Wie kleidet sich Annett?, Liebe, Ehe, Scheidung? oder Wie behandele ich meinen Arzt?, Benehmen ist nicht nur Glückssache, Wir verreisen, Gymnastik hat Vorfahrt, Das liebe Geld …, mit den Jahren wurde die Passat-Reihe fast schon zu einer Enzyklopädie des DDR-Alltags. Des Alltags, wie er war, aber mehr noch, wie er sein sollte: Ratgeberliteratur wollte erziehen. Dieses pädagogische Bemühen war ebenfalls kein Spezifikum des Osten: Auch im Westen mußten selbst Ältere erst einmal lernen, wie man sich bei Festlichkeiten oder bei Auslandsaufenthalten ziviler Art zu verhalten hatte.
Mitte der sechziger Jahre ging dem Passat die Puste aus. Von 1958 bis 1964 waren fast siebzig Titel erschienen, fünf Jahre darauf endete die Bücherei mit der Nummer 72. Paßte die oft etwas neckische Art der Darstellung nicht zum nüchternen Geist der siebziger Jahre? Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Start der beiden Reihen, sind die meisten dort erschienenen Bändchen rar geworden, selten, daß man bei Trödlern gut erhaltene Exemplare findet. Ein paar fehlen mir trotz emsiger Suche immer noch.