Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 30. Oktober 2006, Heft 22

Donnerstrunkshausen

von Hajo Jasper

Schloß Donnerstrunkshausen liegt in Westfalen, jedenfalls ist das in Voltaires Candide so. Besagter Adelssitz hat, wie es sich gehört, auch einen Hofmeister, Magister Panglos. Als treuer Gefolgsmann des Gottfried Wilhelm Leibniz weiß und lehrt er unbeirrt von allen Wechselfällen des Lebens: Diese Welt ist die beste aller möglichen Welten! Panglos weiß auch warum: Es ist bereits erwiesen, daß die Dinge nicht anders sein können, als sie sind; denn alldieweil alles, was ist, zu einem Endzweck geschaffen worden ist, so zielt notwendig alles auf den besten Endzweck hin.
Was Panglos/Leibniz im 17. Jahrhundert verfochten, hat auch der beißende Spott eines Voltaire nicht kleinzukriegen vermocht. Bestärkt durch den Niedergang und schließlichen Absturz des Realsozialismus in dessen historischer Frühform, wissen auch die Realdemokraten der Neuzeit, daß die Gemeinwesen dieser Welt in ihren Grundzügen nicht besser eingerichtet sein könnten, als sie es gewohnt sind.
Eine der gottgegebenen Konstanten, und nicht nur irgendeine, sondern die tragendste, ist das Axiom von der alternativlosen Alleinherrschaft des Privateigentums. Nicht jenes freilich, das selbst entartete Varianten des Kommunismus den Menschen gelassen hatten, um ihr Alltagsleben fristen zu können. Vielmehr geht es um jenes Eigentum, auf dessen Gestalt als Kapital und/oder Produktionsmitteln die Mechanismen ganzer Volkswirtschaften beruhen und aus dem sich das soziale Wohl ihres Eigners, allerdings aber eben auch das Wehe der sehr viel größeren Schar der Nichtbesitzenden grundlegend ableitet.
Die Eigentumsfrage ist in der kapitalistischen Marktwirtschaft sakrosankt. Wo dies so ist, hört auch bei der sonst so meinungsfreizügigen Demokratie der Spaß auf. Erlaubt ist nicht – wie etwa beim Sex –, was gefällt, erlaubt ist, was erlaubt ist, weil: Es ist ja die beste aller Welten, in der wir leben.
Für seine besonders verbohrte Ignoranz gegenüber soviel Evidenz hat der Kommunistische Jugendverband Tschechiens (KSM) nun seine Quittung bekommen. Seit Montag, dem 16. Oktober 2006, ist er per ordre des Prager Innenministeriums verboten! »Der KSM kämpft deshalb für den Sturz des kapitalistischen Systems durch die Masse der Arbeitenden«, steht in dessen Programm; ein Satz, der erstmals seit dem deutschen KPD-Verbot von 1956 nun wieder eine kommunistische Organisation Europas in die Illegalität treibt. Ein Satz, der den Getreuen der Kapitalherrschaft freilich nicht gefallen muß, an dessen Inhalt aber in einer Demokratie programmatische Orientierungen möglich sein müssen. Zumal dann, wenn eben diese »beste aller Welten« außerhalb der »Ersten Welt« eh schon nie die beste war und selbst in ihr dies für immer weniger Menschen eine solche ist. Und zumal, wenn von einem gewaltsamen Sturz des Kapitalismus ja nicht die Rede ist; seit Chile 1970 weiß man schließlich, daß die ökonomische Basis einer Gesellschaft auch auf ganz demokratische Weise umgestaltet werden kann – solange jedenfalls, wie die Musterdemokraten eine solche Entwicklung nicht mit ökonomischer- und militärischer Gewalt töten.
Die Verfassung der Tschechischen Republik zementiert an keiner Stelle den Charakter der Wirtschaft des Landes. Von Marktwirtschaft oder gar Kapitalismus als verbindliche Wirtschaftssysteme ist nirgendwo die Rede. Vielmehr definiert sie den Staat als »Heimat gleichberechtigter freier Bürger, die sich ihrer Pflichten anderen gegenüber und ihrer Verantwortung gegenüber der Gesamtheit bewußt sind« sowie den »Willen, gemeinsam die ererbten natürlichen und kulturellen, materiellen und geistigen Reichtümer zu bewahren und fortzuentwickeln«. Daß all dies nur der Kapitalismus vermag, ist in diesem Grundgesetz nicht vermerkt. Die Kriminalisierung alternativen politischen Denkens ist deshalb nicht verfassungsschützend, sondern verfassungsfeindlich, zumindest solange wie Kapitaleigner nicht gleichermaßen dafür belangt werden, daß sie ihrer Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen nicht nachkommen.
Es ist schon merkwürdig, wie blindwütig die Apologeten des Marktes meinen, ihre Pfründe verteidigen zu müssen. Weltwirtschaftler klügeren Zuschnitts, wiewohl selbst der Marktwirtschaft verbunden, ahnen angesichts solcher Betonköpfigkeit längst Schlimmes. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, als langzeitiger Chefökonom der Weltbank kommunistischer Intentionen unverdächtig, weiß längst, wozu hemmungsloser Kapitalismus führt, wenn er nicht von einer Gesamtvernunft gelenkt wird, sondern sich in globaler Ungezügeltheit immer rücksichtloser austobt. Auf die Janusköpfigkeit der Globalisierung weisend, sagt er: »Die Hoffnungen der Menschen auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder haben sich oft nicht erfüllt, weder in den Entwicklungsländern noch in den Industriestaaten. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute sogar in Ländern mit zunehmender Ungleichheit. Für viele ist es wie ein Teufelspakt. Lebensweisen und Grundwerte sind bedroht.«
Und er resümiert: »Viele Finanzexperten, mit denen ich in den vergangenen Monaten sprach, sind sehr pessimistisch. Sie meinen, innerhalb der kommenden drei, vier Jahre könne es zu einer ernsten Krise kommen. In jedem Fall: Der Tag der Abrechnung naht.«
Das kann man bedenken und beherzigen, oder man kann auf der Titanic an der Bar verharren, solange noch Schampus gereicht wird für die, die den Platz dort bezahlen können. In Prag hat man sich für letzteres entschieden.
»Nun, liebster Panglos«, sagte Candide, »bleiben Sie noch immer bei Ihrem Satze, nachdem Sie gehängt, seziert und zerprügelt worden sind, daß diese Welt die beste sei?«
»Noch immer hänge ich fest an meiner ursprünglichen Meinung«, sagte Panglos, denn ich bin Philosoph, und der läßt sein System nie fahren, überdies konnte Leibniz gar nicht unrecht haben, und zudem gibt’s nichts Vortrefflicheres auf der Welt, als die vorherbestimmte Harmonie wie auch die Lehre vom Raum und die immaterielle Substanz.« Donnerstrunkshausen, 17. Jahrhundert.