Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 2. Oktober 2006, Heft 20

Der Wähler als Überraschungsgast

von Uwe Stelbrink

Nun liegt das Kind also im Brunnen. Die Linkspartei hat in Berlin 183000 Wähler verloren – eine mittlere Großstadt. Carola Bluhm, Fraktionsvize im Abgeordnetenhaus, wird in der Berliner Zeitung mit dem wunderschön blauäugigen Satz zitiert: »Es gab ja kaum Hinweise darauf, daß wir so einbrechen würden.« Freilich, wer wie Stefan Liebich, Harald Wolf, Klaus Lederer und andere der Partei- und Fraktionsspitze den innerparteilichen Protest stets glattbügelte, kleinredete oder ins Ewiggestrige verwies, der muß jetzt baff erstaunt sein, daß nun auch noch die Wähler eine eigene und offensichtlich andere Meinung zur Regierungsbeteiligung der PDS entwickelt haben und obendrein in die Tat umsetzen, indem sie – mehrheitlich unter den Abgewanderten – einfach zu Hause blieben oder eben an andere Parteien ihre Souveränität verschenkten.
Schnauze voll vom kleineren Übel. Schnauze voll von halbseidenen Begründungen für neoliberales Mittun. Schnauze voll, für dumm erklärt zu werden: Blindengeld? Nicht begriffen, daß eine Klage vorm Bundesverfassungsgericht auf Bundesfinanzhilfe wichtiger ist als finanzielle Unterstützung für behinderte Menschen. Risikoabschirmung? Nicht begriffen, daß der Wahlbürger ja so nur die Zinsen für die Risikobürgschaft zahlt. Geschlossene kulturelle und sportliche Einrichtungen? Nicht begriffen, daß die CDU noch viel mehr schließen würde und geschlossen hätte, wenn sie denn an der Regierung gewesen wäre. Senkung der Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst? Nicht begriffen, daß das moderne Solidarität ist. Ungleich verteilte Lasten? Nicht begriffen, daß die Haushaltskonsolidierung das Wichtigste ist.
In der Tat, das haben die dummen Wähler alles nicht begriffen. Und vor allem scheinen sie nicht zu begreifen, weshalb sie sich diese tolle Politik von einer Linkspartei (mit-)verordnen und obendrein als einzig richtige verkaufen lassen sollen.
Ja, ich war auch nicht »wählen«, zum wiederholten Male nicht. Aber dazu habe ich mich hier im Blättchen schon des öfteren bekannt, und es erfüllt mich keineswegs mit Genugtuung, »Wir sind die stärkste der Parteien« zu singen und damit uns Nichtwähler zu meinen. Daß niemand mehr von den unpolitischen Nichtwählern redet, ist ja schon ein Fortschritt, aber bis wir mit unserer gewollten Abstinenz wirklichen Einfluß gewinnen, ist es noch ein bißchen hin.
Gemach, gemach – der Linkspartei ging es mit ihrer Regierungsbeteiligung ja nicht anders. Das hätte man vorher wissen können, wußte es spätestens zur Mitte der Legislaturperiode – und konnte doch die Finger von der Macht – oder von den Posten und Pöstchen und den schicken Dienstwagen – nicht lassen. Nun ist man also in den Brunnen gefallen. Und man sollte denken, noch kühner: erwarten, daß man sich, wenn schon einmal richtig naß, wenigstens ehrlich fragt, wie man wohl hier hineingekommen ist. Und vielleicht: Ob man sich – gegen alle Warnungen – doch zu weit über den Brunnenrand gelehnt hat. Und weshalb zu wenige da und noch bereit waren, das eigensinnige Kind in der Hoffnung auf rechtzeitige Einsicht festzuhalten. Nein, man schlägt eine elegante Volte: Schon wissend um schlechte Karten im erneuten Koalitionspoker, ist man dazu gleichwohl wild entschlossen, formuliert aber in plötzlich ungewohnter Konsequenz Forderungen an die SPD, die diese nicht erfüllen wird. Und dann, ja dann, dann geht man in die Opposition! Als man noch zehn Prozent Stimmen und eine Großstadt Wähler mehr hatte, wollte man von solcher Konsequenz nichts wissen.
»In jeder Niederlage liegt die Chance für neue Wege« heißt es in einer ersten Erklärung des Landesvorstandes. Im Prinzip ja, möchte man antworten. Aber nicht aus dem nassen Gefängnis, wenn sich die realitätsverweigernden Brunnentaucher wider Willen erneut zum Bademeister erklären. Genau das aber dürfte zu erwarten sein. Es sei denn, es revoluzzert im Brunnen.