Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. September 2006, Heft 19

VEB Goethe

von Kai Agthe

In Weimar ist Literatur und Geschichte geschrieben worden. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der »Weimarer Klassik« hat eine lange und institutionalisierte Geschichte, die hier spätestens mit dem 1892 eröffneten Goethe-Schiller-Archiv einsetzt. Im vergangenen Jahrzehnt hat man seitens der Stiftung Weimarer Klassik – die nach einer eingehenden Evaluierung 2005 in Klassik Stiftung Weimar umbenannt wurde – große wissenschaftliche und publizistische Anstrengungen unternommen, um die Verstrickung der Weimarer Klassikforschung mit den doktrinären Systemen des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Konferenzen widmeten sich etwa der Rezeption der Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht und unter Honecker. Die entsprechenden Aufsatzbände erschienen 2000 und 2001.
Mit dem von Lothar Ehrlich, dem Direktor für Forschung und Bildung der Klassik Stiftung Weimar, herausgegebenen Band Forschen und Bilden ist nunmehr ein gewisser Abschluß der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte erreicht. Die in dem Buch enthaltenen zehn Vorträge widmen sich der 1953 vom Kulturministerium in Ost-Berlin verfügten Gründung der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (NFG), die von den Weimarern als »VEB Goethe« bezeichnet wurden und 1991 in die Stiftung Weimarer Klassik übergingen.
Die mit dieser Institution verbundene programmatische Absicht ist im Titel des Bandes skizziert: Die NFG sollte forschen und bilden – beides natürlich auf Basis der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Das konnte zum Teil nur mittels wissentlicher Verzerrung der Inhalte klassischer Literatur und Ästhetik erreicht werden. Eine Ausstellung wie Arbeiterbewegung und Klassik (1964-66) leistete einen diesbezüglichen Beitrag.
Die Vorgeschichte der NFG – Volker Wahl – beziehungsweise deren vierzigjährige Geschichte – Ingeborg Cleve – aufzubereiten heißt aber auch, von den Personen zu sprechen, die dieser kulturpolitisch wichtigen Einrichtung vorstanden. Ungekrönter König im Haus der NFG war zweifellos Helmut Holtzhauer, der, wie Lothar Ehrlich in seinem Beitrag über den 1967 eskalierenden »Schloßkrieg« darlegt, die Residenz nur zu gern der NFG einverleibt hätte. Aber selbst der dogmatische Holtzhauer biß sich bei dem Versuch, zuletzt noch das Schloß und die in ihm ansässigen Kunstsammlungen zu annektieren, die Zähne aus. Was nicht zuletzt an seinem Widerpart Gerhard Pommeranz-Liedtke, dem Kunstsammlungsleiter, lag. Bescheidender im Anspruch war Holtzhauers Nachfolger Walter Dietze, ein vorzüglicher Germanist und ein linientreuer Parteisoldat, über dessen Direktorat (1975-81) Wilfried Lehrke informiert.
Roland Bärwinkel wiederum legt mit detektivischer Akribie dar, wie Buchzensur – die in den DDR-Bibliotheksbestimmungen de jure nicht existierte – auch in der Zentralbibliothek der Deutschen Klassik in Weimar praktiziert wurde. Zwischen 1970 und 1990 waren 900 Titel mit »Benutzungsbeschränkungen« versehen, auch die Nietzsches. Apropos: Steffen Dietzsch kann in seinem mit neuen Fakten untermauerten Aufsatz Der Eingeschlossene von Weimar zeigen, wie zu NFG-Zeiten Nietzsche-Forschung betrieben und gleichzeitig vereitelt wurde. Giorgio Colli und Mazzino Montinari erarbeiteten die historisch-kritische Gesamtausgabe zwar in Weimar, aber nur für den Westen, nicht für das selbsternannte »Leseland DDR«.
Paul Raabe referiert persönliche Erinnerungen des Inhalts, wie er etwa als Direktor der Wolfenbütteler Bibliothek vor und nach 1989 mit Weimar kooperierte. Er betont explizit, daß er es (unter anderem bei Treffen mit Helmut Holtzhauer) stets vermieden habe, die Rede auf politische Entwicklungen zwischen den beiden deutschen Staaten zu bringen. Es mag der altersmilde gestimmte Ton der schlichten Memorabilien Raabes gewesen sein, der Rolf Lettmann zu einer geharnischten Polemik veranlaßte. Da dessen Vortrag aber erst tags darauf zu hören, Paul Raabe aber schon abgereist war, kam es zu keiner Diskussion zwischen beiden Akteuren. Ob beide, Raabe und Lettmann, das Gespräch nach der Tagung gesucht haben, ist nicht bekannt.

Lothar Ehrlich (Hg.): »Forschen und Bilden«. Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1953-1991. Böhlau Verlag Köln u.a. 2005. 222 Seiten, 19,90 Euro