Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. September 2006, Heft 19

Ein Musiker unter den Dichtern

von Mathias Iven

Über Thomas Mann ist schon viel geschrieben worden, doch es scheint, daß noch lange nicht alles gesagt ist. So produzierten denn das Kulturradio des Rundfunks Berlin-Brandenburg und des Mitteldeutschen Rundfunks anläßlich seines 50. Todestages im Jahre 2005 eine 26teilige Sendereihe, die sich ausschließlich dem Thema Thomas Mann und die Musik widmete. Die gute Resonanz war für den Autor Volker Mertens – seines Zeichens Professor für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität  Berlin – Grund genug, den Text nunmehr auch in Buchform vorzulegen.
In seiner für Studenten der Universität Princeton gehaltenen Einführung in den Zauberberg hatte Thomas Mann gegen Ende seines Lebens bekannt: »Was mich betrifft, muß ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen«, denn der Roman, so führte er aus, galt ihm zeitlebens als »eine Symphonie, ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen«. Und an anderer Stelle – in dem Essay Die Sendung der Musik – faßte er sein Verhältnis zur Musik so zusammen: »Von jung auf habe ich dem Rätsel ihres Wesens nachgehangen, sie belauscht, sie zu ergründen gesucht, bin als Schriftsteller ihren Spuren gefolgt, habe unwillkürlich ihrer Wirkungsart Einfluß auf mein eigenes Bilden und Bauen gewährt.« Bereits 1903 wies sein Kollege Richard Schaukal auf diesen Umstand hin, urteilte er doch: »Sein Stil, ein gemeißelter, bewußt erworbener Stil ist der Stil eines allmächtigen, durchaus taktfesten – Dirigenten. […] Eine besondere Eigentümlichkeit sind die Leitmotive, wiederkehrende, der Erinnerung behilfliche, der Verdeutlichung wirksame, festverbundene Charakteristika.«
Die Technik der Leitmotive in Manns Werken wurde ursächlich durch seine Liebe zur Musik Richard Wagners beeinflußt. Wagner war für Thomas Mann die »Heimat seiner Seele«, vor allem aber »ein Musiker der Art, daß er auch die Unmusikalischen zur Musik überredet«. Neben diesem Einfluß, geprägt besonders durch den Lohengrin, Manns Lieblingsoper, die Meistersinger oder den Tristan, untersucht Mertens in seinem Buch beispielsweise die Rolle der Musik in den Buddenbrooks, im Zauberberg und natürlich im Doktor Faustus. Er zeigt uns Thomas Mann als Operngänger, der von Gounod, Verdi oder Rossini gleichermaßen begeistert war wie von Mozart oder Puccini, den sein Bruder Heinrich bevorzugte und noch am Abend vor seinem Tode hörte. Manns Einstellung zur damaligen zeitgenössischen Musik von Strauss, Strawinsky, Hindemith, Berg oder Schönberg wird genauso beleuchtet wie das zwiespältige Verhältnis zu Hans Pfitzner oder seine Bekanntschaft mit dem Dirigenten Bruno Walter, der ihn mit dem Werk von Gustav Mahler vertraut machte.
Thomas Mann, der, vor allem in jüngeren Jahren, selbst Violine spielte, war zeit seines Lebens ein »unersättlicher aktiver Musikhörer«, der neben dem Live-Erlebnis auch die »Konserve« schätzte. Und so ist es denn einerseits für den Leser interessant zu erfahren, welche Stücke sich in seiner Plattensammlung befanden, um andererseits dann zu der dem Buch beiliegenden CD zu greifen, die Aufnahmen vereint, »die Thomas Mann nachweislich besessen und gehört hat«. Diese CD, auf der sich Stücke von Wagner, Gounod, Puccini, Verdi, Bizet und Rossini finden, schließt mit dem Allegretto aus Schuberts Quintett C-Dur op. 163 – der wahrscheinlich letzten Platte, die er gehört hat.

Volker Mertens: Groß ist das Geheimnis. Thomas Mann und die Musik, Militzke Verlag Leipzig, 288 Seiten, mit CD, 39,90 Euro