Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Wir Ehemaligen

von Henryk Goldberg

Na, vermissen Sie es? Gut, das hängt wohl davon ab, wie es für Sie war, das ehemalige Jahr 2005. Wie die Zeit doch so vergeht. Damals, im ehemaligen 20. Jahrhundert, da erschien uns die Zwei als die Anführerin einer Jahreszahl über eine Art von Magie zu verfügen, und jetzt wird dieses Jahrtausend hinten schon bald zweistellig. Und die ehemalige DDR wird dann schon wieder zwanzig Jahre her sein. Indessen, ich war nie ein Bürger der ehemaligen DDR, ich nicht, Ehrenwort. Hingegen bin ich, zugegeben, ihr ehemaliger Bürger. Und ich lebte nie in einem ehemaligen Land, denn als es war, und ich darin, da war es höchst gegenwärtig, mitunter nachgerade eindrücklich gegenwärtig.
Dieses Land war, als es war, alles mögliche, oder glaubte vielmehr, es zu sein: fortschrittlich, humanistisch, weltmächtig, unerschütterlich, geachtet, geliebt, real, unser; aber ehemalig war es nicht. Und daß es sich um ein zukünftiges ehemaliges Land handeln könne, das haben damals auch visionäre Köpfe eher selten gedacht. Selbst wenn sie im ehemaligen Karl-Marx-Stadt lebten, wo man sich verstand auf sehr große Köpfe.
Gewiß, es gibt Menschen, die haben ehemalige Frauen oder dito Männer, und das ist wirklich manchmal rechtfertigungspflichtig. Dann war also Ihre ehemalige Frau, das ist, lieber Leser, jetzt nur so ein hypothetisches Beispiel, manchmal ein ziemliches Miststück. Das gilt, wenn Sie geschieden sind. Sollte sie indessen nur glücklich verstorben als Ihre ungeschiedene Gattin, dann war Ihre Frau eine ganz schöne Schlampe, nicht Ihre ehemalige Frau, denn sie war es, so lang sie war. Wie unsere Republik. Sicher, zurückschauend kann einer schon sagen: Die ehemalige DDR war … was auch immer. Nur: warum? Wurde je etwas verlautbart vom Ehemaligen Römischen Reich Deutscher usw. usf.? Wurde je vernommen, wie Cäsar die ehemalige römische Republik begrub? Oder wie in Nürnberg die Spitzen des ehemaligen Dritten Reiches angeklagt waren?
Natürlich, das ist alles etwas länger her als die DDR und Mitwirkende an den Iden des März lassen sich kaum noch finden. Indessen wird es sich auch in breitesten Schichten unserer Menschen, auch in Kreisen, die als bildungsmäßig schwierig gelten müssen, herumgeredet haben, daß unsere Republik, historisch gesehen, eine ehemalige Erscheinung ist. Dieses ehemalige, wenn von der mühevoll und endlich Verblichenen die Rede geht, hat, inhaltlich, sprachlogisch vollkommen überflüssig bis falsch, so etwas merkwürdig Beschwörendes. Als müsse der Sprecher, oder Schreiber, ausdrücklich betonen, er befinde sich durchaus im Besitz des Wissens um das Ende dieses Landes, er unternehme jetzt nur mal eben einen historischen Exkurs, er verbinde keinerlei nostalgisch-reaktionäre Absichten mit dieser Äußerung über die DDR, die ehemalige. Als wäre der Satz Die DDR war … irgendwie rechtfertigungspflichtig.
Gewiß, mancher, der dabei war, wird sich schon nicht mehr so recht erinnern können. Und manchmal ist es, als hätten wir schon immer gegen die ewig Gestrigen gewettert; aber vorgestern waren wir selbst noch dabei, beim Kampf um die knapp verfehlten 100 Prozent zur Volkswahl. So gesehen, sind wir hier im Osten, die meisten wenigstens, lauter Ehemalige: ehemalige Mitmacher, ehemalige Wahlkämpfer an der Nationalen Front. Nicht das Land ist ehemalig, wir sind es.