Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Phantome

von Frank Ufen

Ein merkwürdiges Phänomen: Es gibt Menschen, die jedes Mal, wenn sie bestimmte Töne hören, sofort bestimmte Farben sehen. Es gibt auch Menschen, die Farben wahrnehmen, sobald sie schwarze Zahlen oder Buchstaben erblicken. Das funktioniert allerdings nicht bei römischen Zahlen, und es kommt so gut wie nie vor, daß Farben die Wahrnehmung von Zahlen hervorrufen. Schließlich gibt es noch Menschen, die auf Klänge mit Geschmacksempfindungen und die auf die Namen der Wochentage und Monate mit Farbempfindungen reagieren.
Die Synästhesie war lange ein rätselhaftes Phänomen – bis sich der große Neurologe Vilayanur Ramachandran damit beschäftigte. Zunächst fand er heraus, wie sie überhaupt zu Stande kommt: nämlich dadurch, daß bestimmte Gehirnareale, die direkt nebeneinander liegen, sonst aber völlig voneinander abgeschottet sind, kreuzweise miteinander verdrahtet sind, so daß eine Vermischung verschiedenartiger Nervensignale entsteht. Ramachandran hat des weiteren festgestellt; daß es überraschend viele Synästhetiker gibt – auf zweihundert Menschen kommt einer – und daß ihr prozentualer Anteil nirgendwo so hoch liegt wie bei Künstlern. Aber nicht genug damit. Kürzlich hat Ramachandran nachgewiesen, daß alle Menschen mehr oder weniger synästhetisch begabt sind. Im Experiment wurden Probanden mit einem welligen, amöbenartigen und einem gezackten, an eine Glasscherbe erinnernden Gebilde konfrontiert, und sie sollten sich vorstellen, daß es sich hierbei um die beiden ersten Buchstaben des Mars-Alphabets handeln würde. Danach sollten sie entscheiden, welche Figur Booba und welche Kiki heißen könnte. Zwischen 95 und 98 Prozent der Befragten erklärten, daß sie die gezackte Form Kiki und die wellige Booba nennen würden.
Noch ein weiterer Umstand spricht laut Ramachandran dafür, daß die Synästhesie nicht das Privileg einer winzigen Minderheit sein kann: Die Metaphern der Alltagssprache sind alles andere als willkürlich. So spricht man zwar von »schreienden« Farben, aber nicht von »bitteren« oder »salzigen«. Man kann sagen, daß etwas »scharf« schmeckt oder daß ein Ton »rauh« klingt, aber nicht, daß sich eine Oberfläche »sauer« oder »rötlich« anfühlt. Und Gerüche können ohne weiteres als »süßlich« bezeichnet werden, obwohl man sie nie geschmeckt hat. In alledem, vermutet Ramachandran, kommt zum Ausdruck, daß verschiedenartige Sinneseindrücke in der Regel nur dann metaphorisch miteinander verknüpft werden, wenn zwischen den für sie zuständigen Gehirnregionen von vornherein neuronale Verbindungen bestehen – was beispielsweise für den Geruchs- und den Geschmackssinn gilt.
Ramachandran glaubt, daß die Evolution den Menschen mit synästhetischen Talenten ausgerüstet hat, weil sie nützlich für den Daseinskampf sind – denn sie hätten es ihm ermöglicht, sich komplexe Fähigkeiten anzueignen, die erfordern, daß Informationen aus mehreren Gehirnarealen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ramachandran hält es sogar für wahrscheinlich, daß die Synästhesie eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der menschlichen Sprache gespielt hat. Nach seiner Theorie waren die frühen Hominiden dazu prädisponiert, jedem wahrgenommenen Objekt ein seiner Form entsprechendes Lautmuster zuzuordnen (Booba-Kiki-Effekt). Außerdem würde sich der Gebrauch der Hände direkt und indirekt darauf auswirken, wie Mund, Zunge und Lippen bewegt würden. Auch dieser Umstand könnte deshalb bestimmend dafür gewesen sein, welche Laute die Hominiden ganz am Anfang erzeugten, um sich miteinander zu verständigen.
Ramachandran beschreibt darüber hinaus die bizarrsten Gehirnerkrankungen: das Capgras- und das Cotard-Syndrom. Capgras-Patienten glauben, es immer dann mit einem Hochstapler oder Doppelgänger zu tun zu haben, wenn sie ein vertrautes Gesicht wahrnehmen. Denn die Gehirnregion, die für das Wiedererkennen von Gesichtern zuständig ist, funktioniert bei ihnen zwar normal. Aber weil sie an das Gefühlszentrum keine Nachrichten übermitteln kann, löst das Wiedererkennen keinerlei Emotionen aus. Unter einer noch gravierenderen Form der emotionalen Verödung leiden die Cotard-Patienten. Weil bei ihnen sämtliche Sinneswahrnehmungen vom Gefühlszentrum abgekoppelt sind, gibt es überhaupt nichts mehr, das bei ihnen noch eine Gefühlsregung auslösen könnte. Cotard-Patienten flüchten sich oft in eine Wahnvorstellung. Sie behaupten von sich selbst, tot zu sein.

Vilayanur Ramachandran: Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2005, 191 Seiten, 8,90 Euro