Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Das biedere Genie

von F.-B. Habel

Ein gutes Couplet ist nicht immer wirkungsvoll
und ein wirkungsvolles Couplet ist nicht immer gut.
Otto Reutter

Vor hundert Jahren tagte im Reichstag noch der Reichstag, doch wer erinnert sich noch an Bülow – der war Reichskanzler unter »S.M.«, wer an den SPD-Politiker Ledebour, der gelegentlich mit Rosa Luxemburg im Streit lag, wer an den Schuster Wilhelm Voigt, der den wilhelminischen Gehorsam in Cöpenick ad absurdum führte? Das Bürgertum ergötzte sich im Theater nicht an Peymann und der Antoni, sondern an Max Reinhardt und der Durieux. Das alles war einmal Gegenwart und wurde schon damals auf die satirische Schippe genommen, auch wenn der Begriff »Kabarettist« noch nicht erfunden war. Otto Reutter, seines Zeichens Humorist, war einer. Er schrieb Couplets, die er in Varietés und Revue-Theatern in ganz Deutschland vortrug, und die er immer wieder aktualisierte. Im Jahre 1900 warf er in dem Couplet »Ach wie fein wird’s in 100 Jahren sein« einen Vorausblick aufs Jahr 2000, wo er mit einiger Ironie deutsche Kolonien in Amerika und Australien voraussagte, für die man so viel Militär brauche, daß Zivilisten abgeschafft seien. Er sah die Konzentration im Handel voraus, und daß die elektronischen Medien sozusagen ein Weiterleben nach dem Tode ermöglichten. Seiner Philosophie des »Laissez-faire«, entsprach der Abschlußvers: »Was in 100 Jahren alles noch passieren kann, geht uns – wenn ich’s recht bedenke – heute gar nichts an. Diese Sorgen überlassen wir dem kommenden Geschlecht. Hoch die Gegenwart – der Lebende hat Recht!«
Wir können seine Intrpretationen heute miterleben, denn der populärste unter den deutschen Kleinkünstlern war einer der ersten Plattenstars. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden unzählige Aufnahmen seiner Lieder. Anläßlich des 75. Todestages von Otto Reutter hat die Hamburger Firma Membran Music Ltd. eine Doppel-Edition herausgebracht, die Otto Reutter als den »König der Kleinkunst« feiert. Der zweite Teil bietet Reutters auch heute noch bekannten »Klassiker«, etwa den »Blusenkauf«, den »Überzieher« oder »Nehm’ Se’n Alten!« Interessanter scheint mir der erste Teil mit weitgehend unbekannten Aufnahmen, die vor und im Ersten Weltkrieg entstanden.
Das Blättchen hatte am Beispiel von Hans Moser schon einmal Anlaß, die seltsamen Booklet-Texte zu glossieren, die Membran Music seinen Editionen beigibt (siehe Wirsing, Heft 26/2004). Diesmal stimmt die abgedruckte Biographie, weil sie weitgehend bei Helga Bemmann abgeschrieben wurde (wobei man einige naive Formulierungen und Wortschöpfungen wie »Bürokratismus« nicht Frau Bemmann anlasten darf, deren Name ja auch nicht genannt wird). Zur Aufwertung des Künstlers wird ein Tucholsky-Text abgedruckt, den Peter Panter in Nr. 1/1921 in der Weltbühne über Reutter veröffentlichte. Tucholsky ist inzwischen rechtefrei, und offenbar darf man jetzt mit seinen Texten machen, was man will! Ohne die Auslassung kenntlich zu machen, erscheint vom folgenden Zitat nur der erste Satz: »Die Pointen fallen ganz leise, wie Schnee bei Windstille an einem stillen Winterabend. Von den politischen will ich gar nichts sagen. Der Mann hat im Kriege geradezu furchtbare Monstrositäten an Siegesgewißheit von sich gegeben – so die typische Bierbankseligkeit des Hurras, die zu gar nichts verpflichtete, bei der schon das Mitbrüllen genügte. Und wenn er heute politisch wird, dann sei Gott davor. Nicht, weil mir die Richtung nicht paßt – sondern weil die Texte verlogen sind.«
Dabei ist es das, was beim Hören auffällt. Der gemütliche Altmärker war stark den Vorurteilen seiner Zeit verhaftet, auf seine Art ein biederes Genie. Er macht sich über einige fortschrittliche Bestrebungen seiner Zeit lustig – immer nur brav und bieder, so daß der Spott nicht wirklich wehetat.
Der Sexualaufklärer Magnus Hirschfeld wird als übereifrig charakterisiert und wittert überall Skandal (»Der Hirschfeld kommt«, 1904), und die rote Rosa wird mit dem Grafen von Luxemburg liiert. Der Sozialdemokratie billigt Reutter schon vor 1914 zu, daß sie in der Stunde der Gefahr für Deutschland patriotisch handeln würde: »… dann kommt der Bebel mit ‘nem Säbel und schlägt die ganze Bande tot!«
Hier noch einmal Peter Panter aus der Weltbühne Nr. 7/1932: »Reutter hatte so etwas wie eine politische Überzeugung. Für ihn spricht, daß er nie von ihr abgewichen ist; er hätte sicherlich kurz nach dem Kriege mit gewaltigem Erfolg nach links rutschen können – das hat er nie getan. Hut ab vor so viel Anständigkeit.
Gegen seine Überzeugung spricht, daß sie fürchterlich gewesen ist. ›Der Deutsche braucht Kolonien‹ – Immer feste druff! – und was er nun gar erst im Kriege getrieben hat, das war bitter, bitter. Ein Radaupatriotismus übelster Sorte. Und doch, welch ein Könner auf seinem Gebiet!«
Im Kriege machte Reutter Stimmung gegen Engländer und Franzosen und stärkte das deutsche Selbstbewußtsein: »Wenn du nur willst, schießen alle Kabolz – Michel, sei stolz!« (1914) Reutter hat seine Haltung bitter bezahlen müssen, denn auch sein Sohn fiel, nur zwanzigjährig, »auf dem Feld der Ehre«. Danach hat er verstärkt Friedenstöne angeschlagen, wenn er die Mutter Erde schildert: »Im Friedenskleide aus weißer Seide, und jedermann wird eingesteh’n: Noch niemals war die Welt so schön!« (1916)
Er nahm Kriegsgewinnler und Militaristen aufs Korn, aber hat sich auch nach dem Krieg mit nationalen Tönen gegen die französische Besetzung gewehrt. Er schildert einen Traum von einer besseren Zeit so: »Wohin ich schau, nur deutsche Leute, nicht fremde Völker, nicht so wie heute, und an der Stelle, wo die jetzt schrei’n, spielt die Kapelle die ›Wacht am Rhein‹!«
Leider hat es Membran Music unterlassen, auf die zeitspezifischen Hintergründe der Texte einzugehen. Erwähnte Personen werden ebenso wenig erklärt, wie die Umstände, unter denen dieses oder jenes Couplet entstanden. Hinzu kommt, daß die Titel kunterbunt nach keinerlei Ordnungsprinzip auf die CDs gepreßt wurden, was die Einordnung selbst dem historisch versierten Hörer schwermacht – abgesehen davon, daß einige Aufnahmen akustisch kaum noch zu verstehen sind. Trotzdem lohnt es sich, hier in eine vergangene Zeit hineinzuhören.
Viele Couplets über Allemeinmenschliches sind zeitlos, und der eine oder andere aktuelle Vers wird immer wieder modern, wie im »Rückblick auf die große Hitze vom Sommer 1911«. Noch immer treten Nachahmer vom Schlage eines Walter Plathe mit einigen der besten Reutter-Couplets auf und haben Erfolg. Peter Panter wußte auch, wieso: »Seine Texte hatten eine Eigenschaft, die Paul Graetz einmal sehr gut definiert hat: sie »tragen«. Das heißt, wenn diese Texte von einem schlechten Vorstadthumoristen gebracht werden, wenn sie der jüngste Lehrling auf dem Jubiläumsabend der Firma singt, dann lachen die Leute auch noch. Und mit Recht.«

Otto Reutter – der König der Kleinkunst, Folge 1, 4 CDs, Membran Music Ltd., 9,99 Euro