Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Verreisen

von Renate Hoffmann

Das Schuljahr neigt sich. Noch sind die Zeugnisse zu überstehen und das elterliche Traktament – bei Nichtgefallen. Dann öffnet sich die Welt. Zu Reisen nach Utopia. Oder auch nach Zielen auf halber Strecke. Hernach wäre über besondere Ereignisse ein Bericht zu verfassen, meinen Lehrer und Erziehungsberechtigte. Nun denn …
»Am Ende des Schuljahres (in den Ferien) fuhr ich nach Bernhof in der Oberpfalz. Zuerst schrieben meine Eltern an einen Bahnbediensteten in Weiden, der mich in einen anderen Zug hineinstecken sollte. Meine Kleider und Wäsche wurden in einen großen Reisekorb gepackt und fortgeschickt. Endlich kam der langersehnte Tag d. Abfahrt … Meine Mutter ging mit mir zum Bahnhof. Ein kurzes ›Lebe wohl‹ u. – Ermahnungen – dann rollte der Zug langsam aus der großen Halle … Schon lange hatte ich mir eine lange Bahnfahrt gewünscht, nun fühlte ich etwas wie Furcht od. Beklemmung in mir.
Unterdessen hatte der Zug seine rasende Schnellzugsgeschwindigkeit erreicht, u. nun ging’s an Freising vorbei, der in der Gegend dort moorigen Isar entlang nach Landshut. Von dort aus nach kurzem Aufenthalt und Aussicht über Landsh. nach Regensburg – und über die Donau nach Nabburg; das Schloß liegt malerisch an einer Anhöhe von zirka 150 m mit teilweise alten Ruinen umsäumt von Efeu und Reben …
Bei der nächsten Haltestelle (Weiden) band ich gleich mein Taschentuch an meine Joppe – das verabredete Zeichen meiner Eltern mit dem Bahnbediensteten, da mich dieser nicht kannte – und ging verzagten Herzen den Schalter zu. Auf den halben Weg dahin kam mir ein Herr entgegen der sich als der verabredete Bahnführer entpuppte. Er nahm mir in freundlicher Weise meine Handtasche, Schirm u.s.w. ab und führte mich in sein jenseits des Bahndammes gelegenes Häuschen, wo er mir eingeschlagene Eier vorsetzte. Nachdem ich mir dieselben vortrefflich munden hab lassen, spielte mir sein Sohn auf der Geige etwas vor. Hierauf begaben wir uns wieder auf den Bahnhof, wo mein Gastgeber für mich ein Billet zur Weiterfahrt besorgte. Sodann wis er mir ein Kuppee an und empfahl sich …«
Die Mutter hatte dem Zögling außer Ermahnungen und Freizeitbekleidung auch Geschenke für die oberpfälzische Ferienfamilie mitgegeben. Darunter Bananen. »Die kannten sie natürlich nicht. Sie meinten es wären Gelbwürste und aßen dieselben samt der Schale. Nach langen auseinandersetzen begriffen sie es daß dieselben Früchte sind u. keine Würste …«

Unter die als Aufsatz verwendete Reiseschilderung schrieb der Lehrer zu Beginn des neuen Schuljahres in München 1910: »Gut. Bis auf die groben Fehler in Grammatik, Orthographie und Interpunktion, recht nett vorgestellt.«