Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 24. Juli 2006, Heft 15

Große kleine Kirche

von Heinz W. Konrad

Für das Christentum bin ich, ungeachtet einst erfahrener Taufe, vermutlich hoffnungslos verloren. In jüngeren Jahren folgerte das zuerst aus dem kindlichen Widerwillen gegen die elterliche Verfügung, Religionsunterricht und Christenlehre zu besuchen, während sich die »ungläubigen« Altersgenossen zu meinem Leidwesen auf dem Bolzplatz austoben konnten. Später nistete sich die Überzeugung ein, daß es zur Welterklärung – selbst beim steten Verbleib diverser Rätsel – keines Überirdischen bedarf; der bekennende Atheist in mir war geboren. Er blieb auch von Bestand, als sich längst Wertschätzung für jene Christen angesammelt hatte, die, so jedenfalls erkennbar, ihren Glauben wirklich lebten und mir damit vielerlei Sympathie abnötigten. Bestärkt ganz und gar wurde mein Religionsverzicht irgendwann durch die Erfahrung, daß die führende politische Kraft meines kleinen Heimatlandes, wiewohl in ihrem Selbstverständnis rigoros atheistisch, auch nur mit Weihwasser kochte, selbst also ohne dogmatische Gläubigkeit an ihre reine Lehre und die Anbetung des Lehrpersonals nicht auszukommen vermochte.
Dies alles war vorauszuschicken, weil im folgenden wiederum von Kirchen in höchster Bewunderung die Rede gehen soll. Denn wie auch immer: Sakralbauten aufzusuchen, wohin je mich eine Reise führt, ist längst ein veritables Bedürfnis. Die äußere und innere Gestalt der Gebäude – ob gewaltig oder anmutig, ob romanisch-karg oder barock-überbordend mit Kunst von betörender Schönheit versehen, sehr wohl aber auch die spirituelle Atmosphäre solcher Orte: Kulturstätten wie diese bedürfen keiner Konfessionalität, um sie tief auf sich wirken lassen zu können.
Wunderbare Kirchen gibt es in Europa allerorten. Hier soll von einer der kleinsten unter ihnen die Rede sein, die einen Besuch – wenn man denn in Südtirol westlich des Brennerpasses weilt, ebenso lohnt wie der ihrer sehr viel repräsentativeren Schwestern anderenorts. Gemeint ist St. Prokulus, ein Kirchlein am Ortsrand der Vinschgauer Gemeinde Naturns, nur wenige Autominuten vom nahen Meran entfernt. Zwischen leuchtenden Obstgärten des Etschtals gelegen, das eingerahmt wird von weiten Hängen bis hoch zu den lange weißbemützen Hochgebirgsgipfeln, kann bei ihm von spektakulären Kreuzgewölben, goldblattbelegten Altären oder filigran ausgearbeiteten Skulpturen, farbigen Fenstern oder üppigem Schnitzwerk freilich nicht die Rede sein. Dafür birgt dieser Winzling unter den meist so stattlichen Gotteshäusern mit seinem gerade mal knapp dreißig Quadratmeter großen Innenraum nichts Geringeres als die ältesten Wandmalereien im gesamten deutschsprachigen Raum; diese wundersamen Fresken gehören mithin zu den bedeutendsten Kunstschätzen Mitteleuropas.
Der diensttuende Kustos weiß so ziemlich alles, was die Kulturhistoriker der Universität Bozen über die Kirche von Naturns bislang erforscht haben. Glücklicherweise hat er auch Zeit, davon zu berichten. Gegründet von irischen Wandermönchen nach deren Prinzip, solcherart Kapellen allesamt an abgeschiedenen Orten zu errichten, ist der Urbau der Kirche wohl bereits im frühen 7. Jahrhundert zu Ehren des heiligen Prokulus – Bischof von Verona und später als Viehpatron und Wasserheiliger – entstanden. Erst im 12. Jahrhundert wurde der jetzige Turm angebaut, das Langhaus schließlich zweihundert Jahre später erhöht.
Wer den einschiffigen Kirchenbau mit seiner rechteckigen Apsis betritt, den nimmt dessen spartanisch-intime Atmosphäre sogleich gefangen. In zwei Ebenen durchziehen die Fresken, so sie denn original erhalten werden konnten, den kargen Raum und bieten gleichsam ein überwältigendes Zeugnis der Wandmalerei gleich zweier Kulturepochen. Das untere Mäanderband, das die Höhe des ursprünglichen Raums erkennen läßt, stammt vermutlich aus dem 7. Jahrhundert. Entdeckt und freigelegt wurde es erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als darüberliegende gotische Malereien abgenommen worden waren; diese sind heute im Archäologischen Museum des Städtchens zu beäugen.
Die umlaufenden Fresken aus mittelalterlicher Frühzeit sind ebenso berührend, wie sie zugleich auch eine überraschende Heiterkeit ausstrahlen. Das hat freilich mit dem Stil der Malerei selbst zu tun. Zugeschrieben wird sie einem irischen Mönch, der auf handschriftliche Miniaturen spezialisiert war; die Szenen an den Wänden der Kirche von Naturns wirken in der Tat wie Vergrößerungen selbiger. Die Figuren sind in keltischer Knappheit gehalten. Die Augen gerieten auf diese Weise länglich, Münder und Nasen wurden mit wenigen Strichen auf das Wesentliche reduziert. Da die einst kräftigen, auf Trockenputz aufgebrachten Farben deutlich verblaßt sind, gemahnen die Fresken eher an Umrißzeichnungen, die gar etwas von Karikaturen an sich haben – eine Einzigartigkeit, die so wohl nur in Naturns zu bestaunen ist.
Am berühmtesten ist das Bild in der Mitte der Südwand: Drei Männer unter einem stilisierten Dach seilen – wie’s scheint – einen auf einer Schaukel sitzenden Mann von einer Mauer ab. Damit könnte die Flucht des Paulus aus Damaskus gemeint sein, doch dürfte es sich eher um den Heiligen Prokulus handeln, der als Bischof vor seiner Gemeinde dereinst auf solch unrühmliche Weise aus Verona fliehen mußte. Während linkerhand fünf Frauengestalten in einem Opferzug zum Altar schreiten, verfolgen rechts sechs Zuschauerinnen mit offenkundiger Spannung das Fluchtmanöver, das eigentlich gefährlich gewesen sein dürfte, hier aber eher den Eindruck heiterer Gelassenheit vermittelt.
Alles, was im Kirchlein von Naturns zu betrachten ist, läßt sich in allergrößter Ruhe tun; die übersichtliche Anzahl der Wandgemälde macht dies möglich. Das gilt freilich auch für die großartigen gotischen Fresken oberhalb des vorkarolingischen Bilderbandes, entstanden im 14. Jahrhundert, als das Langhaus der Kirche erhöht worden war. Auch sie, die klassische biblische Szenen darstellen, sind von ganz eigenständigem Reiz. Ja, sie bergen auch Wundersames, wenn man zum Beispiel unter den zwölf Jüngern der Abendmahlszene unverkennbar zwei Frauengestalten ausmacht. Auch an der südlichen Außenwand ist St. Prokulus – etwa zwischen 1350 und 1390 – mit gotischen Fresken versehen worden. In der oberen Hälfte zeigen sie sieben Bilder der Schöpfungsgeschichte, in der unteren, leider verblaßten, vier Szenen aus dem Leben von Adam und Eva.
Wer sich an alledem erfreut hat, mag sich dann wieder der reizvollen Landschaft rings um das berühmte Kirchlein widmen. Ins Blickfeld gerät dabei auch Burg Dornsberg südlich der Etsch. Von dort aus, so heißt es, kam man bereits im Mittelalter zu St. Prokulus, um mit Gott Zwiesprache zu halten …