Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 24. Juli 2006, Heft 15

Familie Moppel

von Henryk Goldberg

Irgendwann einmal lag ich in einem Krankenwagen und dachte, dies sei kein Traum, sondern das richtige Leben, von dem ich in diesem Augenblick nicht wußte, wie lange es noch währen würde.
Von einen anderen Krankenwagen hingegen weiß ich bis heute nicht, ob er ein Traum war oder das richtige Leben. Ich sehe diesen Krankenwagen noch genau vor mir. Ich war nicht drin, denn er war noch kleiner als ich. Klarweiß und ein rotes Kreuz. Ich spielte damit hinter dem Bett meiner Eltern in deren Schlafzimmer. Besonders toll waren die Türen dort, wo ich hinten die Kranken reinschieben konnte. Es war ein Traum von einem Krankenauto, und möglicherweise war es überhaupt ein Traum. Denn ich weiß bis heute nicht sicher, und nie wird es mir jemand sagen können, ob es dieses Auto je gegeben hat oder ob ich diese eine Szene so wirklichkeitsnah träumte, weil ich eben von einem solchem Auto träumte. Meine Mutter kann sich an ein solches Fahrzeug nicht erinnern; aber das ist kein Beweis.
Dafür erinnern wir gemeinsam ein anderes, real existierendes Spielzeug, das hieß Der Dreckmoppel. Der sah aus, wie er hieß, weil er nämlich deswegen so hieß, und man hätte ihn gut und gern eine alte Sau nennen können. Er war aber keine alte Sau, er war mein alter Lieblingsteddy. Irgendwie hieß die ganze Teddyfamilie Moppel: Moppelmami, Moppelpappi und so.
Aber der Star war Dreckmoppel. Ein Fell wie Patchwork; Spuren, ließe sich sagen, eines gelebten Teddy-Lebens. Und obwohl er wirklich geächtet unter unter seinesgleichen war, ein Hartz-IV-Opfer lange vor der Erfindung der Arbeitslosigkeit in Thüringen, hatte ich ihn lieb wie keinen anderen. Meine verehrte Frau Mutter machte später die pädagogisch wertvolle Anmerkung, diese Liebe habe wohl darin gegründet, daß ich während meiner intellektuellen Pubertät zu einem ähnlichen Outfit neigte, aber das glaube ich nicht. Weil: Es geht auch anderen so.
David zum Beispiel ist 21 Jahre alt, hat dicke Oberarme und einen braunen Gürtel. Und in seinem Bett liegt, wer immer sonst noch da liegen mag, ein weißer Eisbär. (Diese Information ist übrigens streng vertraulich.)
Das ist der Überlebende seines reichlich ausgestattenen Kindheitszoos. Und dieser Eisbär war so ziemlich das billigste unter all den schönen Tieren. Er lag, es war kurz nach der Wende, als man als Ostberliner zum Einkaufen nach Westberlin fuhr, weil es im Osten noch dauerte, er lag also bei Aldi in der Ramschecke, sie hatten vermutlich gerade eine Million Eisbären in Honkong geordert. Er war nicht der Zweck des Einkaufes, wir waren nicht auf Geschenk-Safari, er lag da einfach so, er kostete nicht viel, und weil ich mich immer ein wenig langweile, wenn ich Wagenschieber bin im Supermarkt, hab ich ihn halt in den Korb gelegt. Zu Hause machte er Karriere, niemand weiß warum.
Kinder sind eben so. Für Kinder sind es tatsächlich die inneren Werte, die zählen. Diese Puppe ist häßlich wie die Nacht, aber sie ist lieb und deshalb wird sie die Prinzessin. Etwas muß auf eine unbestimmbare Art lieb sein, dann ist es auch schön und wichtig. Das ist kein Wert, der irgendetwas zu tun hätte mit dem, was andere davon halten. Da ist nichts zwischen dem Menschen und seinem Gefühl. Dann werden wir älter.