Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 26. Juni 2006, Heft 13

Mein Lebenslauf (1955)

von Hans Leonard

Am 12. September 1902 wurde ich als Sohn des Kapellmeisters und Komponisten Hugo Leonard zu Berlin geboren. Meine Eltern führten als Künstlerehepaar – meine Mutter war Schauspielerin – ein sehr unstetes Leben, das dazu führte, daß meine Schwester und ich den größten Teil der Jugendzeit nicht im Elternhaus, sondern bei Verwandten und Bekannten verbrachten.
Ich besuchte die Volksschule, verließ diese in der IV. Klasse und ging dann in die Real- bezw. Oberrealschule über. Das Ende meiner Schulzeit fiel mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges zusammen, und so war es sehr schwer, eine geeignete Lehrstelle zu finden. Zunächst trat ich Ende 1918 als Lehrling in die Theater- und Varieté-Agentur Paul Schultze, Berlin W. 66, ein. 1919 entschloß ich mich auf Grund meiner Neigungen, das Verlagsfach zu erlernen. Durch Vermittlung meines Vaters volontierte ich in der »Verlagsanstalt musikalischer und dramatischer Werke« (Heinz Wolfradt), Berlin SW. Dieser Verlag befaßte sich speziell mit dem Herausbringen von musikalischen und literarischen Bühnenwerken (Heinrich Lautensack, August Strindberg, Ibsen und anderen). Da der Betrieb sehr klein war, hatte ich Gelegenheit, alle vorkommenden Zweige dieser Branche kennenzulernen. Im Jahre 1920 gelang es mir, Unterschlagungen der Prokuristin des Verlages aufzudekken. Obwohl ich auf diese Weise dem Betrieb und seiner Leitung einen großen Dienst erwiesen hatte, konnte sich der Inhaber des Betriebes, Heinz Wolfradt, nicht entschließen, die ungetreue Angestellte zu entlassen, da sie den entstandenen großen Schaden abarbeiten sollte. Natürlich war sie als versierte, erfahrene Kraft für den Betrieb wertvoller als der Volontär. So wurde die auf zwei Jahre bemessene Volontärzeit bereits nach anderthalb Jahren beendet. Bis zur Erlangung meiner ersten Stellung als Verlagsangestellter arbeitete ich vorübergehend einige Monate im Lektorat der Weltbühne, da Siegfried Jacobsohn, der mit meinem Vater gut befreundet war (sie lernten sich im Sozialistischen Studentenverband der Linden-Universität zu Berlin kennen), auf Wunsch meines Vaters Gelegenheit erhalten sollte, ein Urteil über meine geistigen Anlagen zu geben.
Von 1921 bis zum Machtantritt des Faschismus absolvierte ich Engagements in verschiedenen Verlagsanstalten. Da mein Vater Jude war, konnte ich von 1933 ab nur noch auf Gebieten arbeiten, die nichts mit dem Verlagswesen und der Literatur oder Kunst zu tun hatten. So wurde ich Handelsvertreter in der kosmetischen Branche, bis im Jahre 1943 der sogenannte NS-Gauwirtschaftsberater von Berlin allen Betrieben untersagte, mit Menschen, die als Halbjuden galten, noch irgendwelche Beziehungen zu unterhalten. Es setzte die Liquidierung auch von sogenannten jüdischen Mischlingen ein. Zu dieser Zeit las ich ein Zeitungsinserat des GEA-Verlages (Landkartenverlag), Berlin W. 50, Potsdamer Straße, der einen Expedienten suchte. Ich meldete mich dort und hatte das Glück, unter den dortigen Betriebsleitern einen Mann wiederzusehen, der mit dem Inhaber eines Bühnenverlages, für den ich in den Zwanziger Jahren gearbeitet hatte, befreundet war. Diesem Manne, einem Dr. Wurm aus Bayern, verdankte ich das Engagement als Expedient auf Grund einer durch diesen Verlag erreichten Dienstverpflichtung; außerdem vermied die Verlagsleitung, meine Person der sogenannten NS-Kulturkammer zu melden. Da ich größtenteils im Lager beschäftigt wurde, arbeitete ich viel – auch politisch – mit ausländischen Zwangsarbeitern zusammen; ich gehörte einer aus den Reihen dieser Verfolgten gebildeten Luftschutzlöschmannschaft an. Der Umgang mit ihnen, das gemeinsame Erleiden und Erleben bildete den Inhalt einer wichtigen politischen Phase meiner Entwicklung.
1945 erlebte ich – selbstverständlich als Zivilist, da ich ja als »wehrunwürdig« galt – die Befreiung Berlins vom Faschismus durch die Truppen der Roten Armee.
Gleich nach der Kapitulation, Mitte Mai, meldete ich mich zur Arbeitsaufnahme bei den im Entstehen begriffenen Zellen der demokratischen Selbstverwaltung, bei den Volkskomitees. Zuerst arbeitete ich im Volkskomitee Pankow-Süd, Thulestraße; dieses Komitee verwandelte sich alsbald in die Arbeitseinsatzstelle Süd. Dort trat ich auch sofort nach Wiederzulassung der Parteien und der Gewerkschaft der KPD und dem FDGB bei.
Zuerst arbeitete ich in der Sozialfürsorge, beteiligte mich am Aufbau auch der Partei auf unterster Ebene und wurde Mitte Juni auf Vorschlag der Partei vom Bürgermeister zum Kartenstellenleiter der Kartenstelle IV, Berlin-Pankow, Hallandstraße, berufen.
Am 1. Dezember 1945 übernahm ich die Funktion eines Hauptdienststellenleiters im Gesundheitsamt Pankow, Grunowstraße, die ich bis zum 31. März 1946 ausübte.
Da Frau v. Ossietzky, die ich seit 1938 kannte, mich seit 1945 dauernd bat, ihr bei der Wiederherausgabe der Weltbühne behilflich zu sein, trug ich diese Angelegenheit dem Zentralkomitee unserer Partei vor. Die Genossen Fred Oelßner und Anton Ackermann erteilten mir damals den Parteiauftrag, die Weltbühne mit Frau v. Ossietzky zusammen, die sich ohne mein Zutun eine britische Lizenz dafür besorgt hatte (und selbstverständlich auch ohne mein Wissen), herauszugeben. Auf Anordnung des ZK durfte ich am 31. März 1946 meine Funktion in der Bezirksverwaltung niederlegen, um mich den Vorbereitungen zur Herausgabe der Weltbühne zu widmen. Schon am 10. Januar 1946 meldeten wir das Verlagsunternehmen »v. Ossietzky-Verlag« beim Bezirksamt Tiergarten im britischen Sektor auf Grund der britischen Lizenz für Frau v. Ossietzky an. Auf Wunsch Frau v. Ossietzkys, die selbstverständlich von meinen Vereinbarungen mit der Partei nur das für sie Wissenswürdige wußte, übernahm ich die Leitung des Verlages und den Aufbau der Redaktion. Sehr eng arbeitete ich dabei mit dem eben aus Moskau zurückgekehrten Erich Weinert zusammen, der mir ein großartiger Freund und Berater wurde, aber auch seine publizistische Arbeit zusagte. Weinert stellte auch die Verbindung zwischen mir und den sowjetischen Genossen her und natürlich auch diejenige mit den einzelnen Stellen unserer Partei.
Ende Mai 1946 stellte es sich heraus, daß alle Bemühungen, die Weltbühne getarnt mit britischer Lizenz herauszubringen, nicht zu dem von unseren sowjetischen Freunden und unserer Partei gewünschten Ziele führen konnten, obwohl es mir gelungen war, alle Papier- und sonstigen Schwierigkeiten zu überwinden. Besonders kritisch wurde die Sache dadurch, daß Professor Hermann Budzislawski, der damals in den Vereinigten Staaten von Nordamerika weilte, durch einen telegrafischen Einspruch bei der britischen Kontrollkommission in Berlin-Charlottenburg – sicherlich ungewollt – den Briten die Gelegenheit gab, uns Schwierigkeiten zu machen. Hermann Budzislawski hatte gegen die Lizenzerteilung zur Herausgabe der Weltbühne an Frau v. Ossietzky auf Grund angeblich eigener Ansprüche und Besitzrechte protestiert.
In Anbetracht dieser Situation, die, wie mir die sowjetischen Genossen Major Dawidjenko und Major Tscheglow mitteilten, ihren Informationen zufolge zu einer Usurpation der Weltbühne durch die Amerikaner in Berlin zu führen drohte, entschlossen wir uns, Frau v. Ossietzky durch meine Vermittlung nahezulegen, auf diese britische Lizenz zu verzichten und um eine sowjetische Lizenz nachzusuchen. Da Frau v. Ossietzky in einer Rücksprache mit mir von der Richtigkeit meiner Bedenken überzeugt wurde, übertrug sie mir alle Vollmachten, die erforderlich waren, um die Weltbühne mit sowjetischer Lizenz Anfang Juni herauszubringen. Seitdem erscheint die Weltbühne aufgrund sowjetischer Lizenz und später von Lizenzen der Deutschen Demokratischen Republik. Die sowjetische Lizenz erhielten Frau v. Ossietzky und ich gemeinsam, die Lizenzen der DDR wurden mir übertragen, wobei aber Frau v. Ossietzky, die nach Umwandlung des Verlagsunternehmens in einen VOB-Verlag aus dem Unternehmen ausschied, weiterhin als Herausgeberin mitfungiert, wofür ich persönlich die lebenslange Verpflichtung Frau v. Ossietzky gegenüber im Einverständnis mit unserer Partei übernehmen mußte, ihr dafür ein monatliches Herausgeberhonorar in Höhe von DM 1.000,- zu zahlen.