Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 12. Juni 2006, Heft 12

Afghanistan

von Friedrich Engels

Afghanistan – ein weiträumiges Land in Asien, nordwestlich von Indien. Es liegt zwischen Persien und Indien und, der anderen Richtung nach, zwischen dem Hindukusch und dem Indischen Ozean … Die Oberflächengestaltung Afghanistans ist sehr unregelmäßig; hohe Tafelländer, weit ausgedehnte Gebirgszüge, tiefe Täler und Schluchten. Wie alle gebirgigen Tropenländer bietet es eine große klimatische Vielfalt. Im Hindukusch sind die hohen Gipfel das ganze Jahr hindurch schneebedeckt, während in den Tälern das Thermometer bis auf 54,4° Celsius ansteigt. Die Hitze ist in den östlichen Teilen größer als in den westlichen, aber im allgemeinen ist das Klima kühler als in Indien, und obwohl die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter und zwischen Tag und Nacht sehr groß sind, hat das Land im allgemeinen ein gesundes Klima. Die häufigsten Krankheiten sind Fieber, Katarrhe und Augenentzündungen. Zuweilen treten die Pocken verheerend auf. Der Boden ist von einer üppigen Fruchtbarkeit. Dattelpalmen gedeihen in den Oasen der sandigen Einöden, Zuckerrohr und Baumwolle in den warmen Tälern … Kandahar wurde erst 1754 gegründet. Es liegt an der Stelle einer älteren Stadt. Einige Jahre war es die Hauptstadt, 1774 jedoch wurde der Sitz der Regierung nach Kabul verlegt …
Die geographische Lage Afghanistans und der eigentümliche Charakter des Volkes verleihen dem Lande im Zusammenhang mit den Geschicken Zentralasiens eine politische Bedeutung, die kaum überschätzt werden kann Die Regierungsform ist eine Monarchie, aber die Macht des Königs über seine stolzen und ungestümen Untertanen ist autokratisch und sehr unsicher. Das Königreich ist in Provinzen eingeteilt, die jeweils von einem Repräsentanten des Herrschers verwaltet werden, der die Abgaben an den Staat einsammelt und sie in die Hauptstadt schickt.
Die Afghanen sind ein tapferes, zähes und freiheitsliebendes Volk; sie beschäftigen sich ausschließlich mit Viehzucht und Ackerbau und meiden Handel und Gewerbe, die sie voller Verachtung den Hindus und anderen Stadtbewohnern überlassen. Der Krieg ist für sie ein erregendes Erlebnis und eine Abwechslung von der monotonen Erwerbsarbeit. Die Afghanen sind in Clans aufgeteilt, über welche die verschiedenen Häuptlinge eine Art feudaler Oberhoheit ausüben. Nur ihr unbezwinglicher Haß auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für persönliche Unabhängigkeit verhindern, daß sie eine mächtige Nation werden; aber gerade diese Ziellosigkeit und Unbeständigkeit im Handeln machen sie zu gefährlichen Nachbarn, die leicht vom Wind der Laune aufgewühlt oder durch politische Intriganten, die geschickt ihre Leidenschaften entfachen, in Erregung versetzt werden können. Die beiden Hauptstämme sind die Durrani und die Ghildschi, die in ständiger Fehde miteinander liegen … Die militärischen Kontingente werden hauptsächlich von den Durrani gestellt, der Rest der Armee rekrutiert sich entweder aus den anderen Clans oder aus militärischen Abenteurern, die nur in der Hoffnung auf Sold oder Plünderei in Dienst treten …

Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 14, Karl Dietz Verlag Berlin, Seite 73 ff. Der Band kostet 14,90 Euro und kann über den Einzelhandel bestellt werden.