Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 29. Mai 2006, Heft 11

Jazz in der DDR

von Thomas Behlert

Nachdem im Laufe der Nachwendezeit schon meterlang Bücher über den DDR-Rock erschienen sind und im vergangenen Jahr das außergewöhnlich gute Druckerzeugnis Bye Bye Lübben-City die Runde machte und den Nichtfans die Blues- und Hippiekultur erläuterte, fehlte noch etwas über den Jazz, Made in GDR. Wer es sehr wissenschaftlich fundiert, aber etwas trocken haben möchte, dem sei Werner Josh Sellhorns faktenreiches Buch Jazz, DDR, Fakten empfohlen. Mister Jazz der DDR bringt hier alles auf einen Punkt: Er geht kurz und eindringlich auf die verschiedenen Jazzrichtungen ein, bringt fundiertes Wissen über die Interpreten und läßt noch einmal die Werke der einzelnen Jazzmusiker auferstehen; die Discographie ist ohne Fehl und Tadel. Als zweites Werk kann der Jazzbegeisterte ohne Sorgen in Rainer Bratfischs Freie Töne blättern. Bratfisch zeigt den sich ständig verändernden Stellenwert der vielfältigen Jazzszene in der Kulturpolitik und die stilistische Entwicklung des Jazz von der Kopie angloamerikanischer Vorbilder bis zu eigenständigen Entwicklungen in den siebziger und achtziger Jahren, die den DDR-Musikern internationale Anerkennung bescherten.
Der Jazz hatte in der DDR schon immer einen besonderen Stellenwert. Staat und Regierung kam diese Art von Musik sehr suspekt vor. Es ging hier nicht um den Aufbau des Landes und schon gar nicht konnten einzelne Strophen während der Paraden mitgesungen werden. Mal jubilierte ein Fagott, dann schlug der jazzigste aller Schlagzeuger, Baby Sommer mit Löffeln auf sein Schlagzeug, spielte hinter einem Vorhang Hörmusik oder zelebrierte mit Hannes Zerbe und Ludwig Petrowsky den Freejazz auf ganz feine Art. Die Fans liebten die Musik. Hier waren sie unter sich, schlugen mit heimlichen Konzerten dem Staat ein Schnippchen oder tauschten mit Gleichgesinnten Westplatten aus. Manchmal konnten sogar internationale Künstler illegale Konzerte in Klubhäusern oder privaten Clubs geben. Diese Lebendigkeit, der Wandel der Szene, aber auch der Enthusiasmus, mit dem immer wieder neue Schlupflöcher gesucht und Verbote unterlaufen wurden, waren typisch für die Nischenkultur. In den achtziger Jahren war der Jazz endlich so akzeptiert, daß sogar einige Schallplatten erschienen und große Festivals den Hunger nach Livemusik stillten. Unvergeßliche Erfahrungen und Erlebnisse konnten Liebhaber und Musiker bei überregionalen Treffen sammeln. Konzerte und Festivals in Peitz, Berlin, Dresden, Leipzig und Warschau haben heute noch einem Platz im Herzen der Beteiligten. Übrigens gab es in der DDR die meisten Jazz-Clubs Europas, die sich allerdings Interessengemeinschaften und Arbeitsgemeinschaften schimpften.
Zu Wort kommen nun bei Reiner Bratfisch nicht nur die Musiker, sondern vor allem die Multiplikatoren und Veranstalter, Moderatoren und Fans. Themen wie die Rolle der Medien, die internationale Ausstrahlung des Jazz in der DDR, wirtschaftliche Aspekte, die Ausbildung der Musiker, die Organisation der Veranstaltungen, Beziehungen zu anderen Künstlern (Malerei, Tanz, Literatur) werden behandelt und durch Interviews, Fotos und Einzeldarstellungen fundiert. Da bisher kaum DDR-Jazz auf CD wieder aufgelegt wurde und auch die Polish-Jazz Sampler schmerzlich fehlen, ist die beigelegte CD leider nur ein Tropfen auf dem heißen Stein des Verlangens: Die erste DDR-Allstar-Band, mit Joachim Kühn und Ludwig Petrowsky, spielt voller Power, wunderbar frei und erfrischend anders.

Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR, Ch. Links Verlag Berlin, 335 Seiten, 24,90 Euro