Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 29. Mai 2006, Heft 11

Der Kaiser und der Kommunist

von Wolfram Adolphi

Vor 25 Jahren, am 28. Mai 1981, empfängt Kaiser Hirohito, der japanische Tenno, in seinem Palast in Tokio einen ungewöhnlichen Gast: Erich Honecker, den ersten Mann im Staate DDR. Es ist eine Zeit, in der die Hoffnung besteht, es könnte gelingen, daß Kriegsdrohungen aus der Mode kommen. Die Einsicht, man riskiere mit Krieg nicht nur die Existenz des Gegners, sondern auch die eigene, führt – wenngleich auf dornenreichen Umwegen – zu der vernünftigen Idee, Konflikte nicht durch Gewalt zu lösen, sondern durch Gespräche und Interessenausgleich.
Nun sind die beiden körperlich eher kleinen grauhaarigen Herren, die sich da respektvoll voreinander verneigen, nicht diejenigen, von denen die Krieg-Frieden-Frage in der Welt wirklich abhängen könnte. Der eine – der Kaiser – ist Repräsentant, aber nicht politischer Entscheider seines Landes. Und der andere – der Kommunist – steht einem Ländle vor, dessen Bevölkerung gerade mal so groß ist wie die der japanischen Hauptstadt mit Vororten.
Und trotzdem ist diese Begegnung nicht ohne Gewicht. Denn sie waren einmal unversöhnliche Gegner, die beiden Herren. Hirohito, bereits 1926 Kaiser geworden, hatte nicht immer schon »nur« die Rolle eines Repräsentanten gespielt. 1932, als japanische Truppen in der Mandschurei einfielen und sie von China abtrennten; 1937, als sie zur Aggression gegen ganz China ins Feld zogen; und 1941 beim Überfall auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor, mit dem der Krieg im Pazifik ausgelöst wurde – immer hatte er in oberster Entscheidungsverantwortung gestanden. Und auch, als 1936 mit dem Antikominternpakt die »Achse« Tokio-Berlin, das Bündnis mit Hitler, geschmiedet worden war.
Honecker hingegen, Jahrgang 1912, war im Kampf der KPD gegen selbigen Hitler und gegen die Kriegstreiberei Japans und Deutschlands politisch geprägt worden und seines antifaschistischen Einsatzes wegen 1935 ins Zuchthaus gewandert, aus dem ihn erst der Sieg der sowjetischen Armee 1945 befreit hatte. Und folgerichtig hatten sie auch nach 1945 auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade gestanden: Hirohito als von der Siegermacht USA in seiner Macht gestutztes, aber zugleich vor einer Verurteilung als Kriegsverbrecher bewahrtes Staatsoberhaupt einer eng mit den USA verbündeten großen Wirtschaftsmacht des kapitalistischen »Westens« – Honecker als bis zum Staats- und Parteichef aufsteigender kommunistischer Funktionär einer eng mit der Sowjetunion verbündeten kleinen, aber wirtschaftlich und politisch durchaus interessanten »Macht« des staatssozialistischen »Ostens«.
Und nun also Empfang und Gespräch und gemeinsames Essen, gegenseitige Würdigung von Aufbauleistung und Tradition, Wirtschaft und Kultur. Das geht, obwohl – oder weil? – USA-Präsident Ronald Reagan gerade davon gesprochen hat, daß der Kommunismus auf den Aschehaufen der Geschichte gehört, und obwohl – oder weil? – die sowjetische Führung zwar im Großen den Krieg nicht will, ihn aber dennoch in Afghanistan für ein legitimes Mittel zum Erhalt eigenen Einflusses hält. Es geht trotz des damals so wie heute ungelösten Nahostkonflikts, trotz des von den USA per Saddam-Hussein-Unterstützung angestachelten Irak-Iran-Krieges, und es geht, weil sich in China seit 1978 ein Aufbruch vollzieht, der auch internationale Bewegung verheißt. Es geht, weil das Wort von friedlicher Koexistenz und Entspannung, um die zu bemühen sich lohnt, keineswegs lächerlich ist. Es geht, weil man nach Auswegen aus der Konfrontation sucht und nach wirtschaftlichen Möglichkeiten – im Osten wie im Westen. Und es geht, weil die Unbeweglichkeit der Hauptopponenten – der USA und der Sowjetunion – den abhängigen Verbündeten Raum für Schlupflöcher und Testballons läßt.
Honecker trifft sich in Japan natürlich nicht nur mit dem Kaiser. Er verhandelt mit Ministerpräsident Zenko Suzuki, trifft sich mit Parlamentariern, konferiert mit Yoshihiro Inayama, dem Chef des strategischen Führungszentrums der japanischen Wirtschaft Keidanren, besucht Fabriken und Kulturerbe-Orte, und im Friedenspark von Nagasaki weiht er eine Stele der Völkerfreundschaft des Berliner Bildhauers Gerhard Rommel ein.
Der Kaiser verhilft dem Kommunisten zu einem Durchbruch. Es ist der erste Besuch Honeckers in einem großen kapitalistischen Land. 1987 wird Helmut Kohl in Bonn Gastgeber sein.
Daß »es geht« mit dem Kaiser-Besuch des Kommunisten, hat aber nicht nur mit der politischen Großwetterlage und dem Interesse an Handel und Wandel zu tun, sondern auch mit Menschen, die schon lange in den bilateralen Beziehungen tätig sind. Zum Beispiel die Eheleute Eiko Saito und Jürgen Berndt, die beide als Japanologen an der Humboldt-Universität tätig sind und manches Eis im gegenseitigen Verständnis zu brechen vermögen. Oder Künstler wie Kurt Masur und Peter Schreier, Annerose Schmidt und Otmar Suitner, die in Japan Kultstatus genießen. Oder Wissenschaftler wie der Hallesche Schweißtechnikprofessor Werner Gilde, dessen Erfindungen auf den Werften von Nagasaki Furore machen. Oder Hans Modrow, der als Vorsitzender der parlamentarischen Freundschaftsgruppe DDR-Japan mehrmals in Tokio empfangen wird.
Und Horst Brie. Der ist seit 1973 Botschafter der DDR in Japan, hat den diplomatischen Beziehungen von Beginn an seinen weltgewandten, kulturvollen und kommunikationsfreudigen Stempel aufgedrückt und in Tokios Politiker-, Wirtschafts- und Journalistenkreisen eines ganz gewiß vermocht: das Klischee vom bärbeißigen, sturen, unbeweglichen Ostblock-Diplomaten gründlich zu zerschlagen. In den sechs Monaten, die von der Ankündigung des Honecker-Besuches in der japanischen Presse Ende Dezember 1980 und der Begegnung zwischen Kaiser und Kommunist vergehen, gelingt ihm noch ein Meisterstück: Er bringt in Tokio Robert Maxwell, den britischen Presse-Tycoon und Herausgeber der Honecker-»Autobiographie« Aus meinem Leben, mit dem Chef des Verlages Simul Press, Katsuo Tamura, zusammen, und es entsteht in kürzester Zeit eine japanischsprachige Ausgabe des Buches, die pünktlich Mitte Mai vom Wirtschaftsausschuß Japan-DDR und der Kulturgesellschaft Japan-DDR der japanischen Öffentlichkeit vorgestellt wird. Die Übersetzung erledigt – natürlich ohne Computer und Internet, sondern mit Bleistift Blatt für Blatt – in Klausur in einem ministeriellen Ferienhaus in Zeuthen der Japanischlehrer Eiichi Yasui von der Humboldt-Universität, die fertigen Kapitel erreichen Tokio in den Aktentaschen von Dienstreisenden beider Länder. Das Buch ist mehr als nur die Honecker-Geschichte – es macht den Japanern die DDR insgesamt etwas begreiflicher.
Und von Eishiro Saito muß hier noch die Rede sein, dem Chef des seinerzeit weltgrößten Stahlkonzerns Nippon Steel, der die DDR für so wichtig hielt, daß er nebenbei auch dem Wirtschaftsausschuß Japan-DDR vorstand. Mit ihm konnte ich 1982 in Tokio den Honecker-Besuch für die Wochenzeitung horizont resümieren, und der Teufel soll mich holen, wenn da nicht mit größter Ernsthaftigkeit von Abrüstung, Weltfrieden und beiderseits nützlichen Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen gesprochen worden ist. Vom schon so baldigen Verschwinden der DDR hingegen war trotz der eingangs erwähnten Reaganschen Prophezeiungen nicht die Rede. Und schon gar nicht davon, daß dieses Staatswesen eigentlich – wie heute mancher denkt – in aller Gänze zu ächten sei.