Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

Das Feuilleton, die Krise, die Provinz

von Henryk Goldberg

Mitunter habe ich mich, zur Stabilisierung meines Selbstwertgefühls, gefragt, ob die vielfach beklagte Krise des Feuilletons auch in einer Zeitung mit regionaler Verbreitung stattfindet. Ich bin stolz, sagen zu dürfen: Ja, sie findet auch bei uns in der Provinz statt, auch wir in Thüringen haben von der Sinnkrise des Feuilletons gehört. Nur, daß wir manchmal keine Zeit haben, sie recht zu würdigen. Denn manchmal, wenn zum Beispiel in Frankfurt gelegentlich eines coram publico entwendeten Ringblocks die Pressefreiheit akut gefährdet scheint, da bewilligt der Thüringer Kulturminister gerade einen Förderbescheid für die Volkskunst, und der Vorgang will gewürdigt und analysiert sein, der Stadelmeier läuft uns nicht weg, zumal er uns nicht kennt. Ein anderes Mal, wenn ich gefragt werde, ob ich, auf fremder Leute Kosten, Peter Brook in Paris interviewen will, weil er nächstens nach Weimar kommt, gibt es eine Premiere in Nordhausen, die will auch im Blatte sein, auch wenn der Brook uns wegläuft, und seufzend zeigen wir Einsicht.
Ich will damit sagen, es liegt eine Art von Damm zwischen den Strömen des Zeitgeistes und dem Feuilleton in der Provinz, oder sagen wir, die europäische Dimension fest im Blick, dem Feuilleton der Regionen. Der Redakteur einer solchen Zeitung gerät zwanghaft in die Situation einer gewissen Ignoranz, da er eine bestimmte Quantität regionaler Ereignisse abzuarbeiten hat, auch wenn diese mitunter keinen Vorteil außer dem des Ortes für sich zu reklamieren haben. Das ist gelegentlich ärgerlich und manchmal auch peinlich. Es hat aber auch Vorteile. Zum Beispiel den, den Diskurs über die Krise des Feuilletons nicht gar so exzessiv führen zu müssen.
Kultur ist nicht, wie gelegentlich bange gefragt wird, auf dem Weg in die Nische, sie ist schon lange da. Und irgendwie gehört sie da auch hin. Ich sage das als jemand, der seit zwei Jahrzehnten in einem ideellen wie ganz praktischen Sinne durch das Verfassen von Theater- und Filmkritiken lebt und hofft, diesen Zustand für das verbleibende Arbeitsleben prolongieren zu können. Diese Nische ist in den Printmedien, anders sicherlich als in einigen audiovisuellen, kein quantitatives Problem, wir müssen nicht um unseren Raum ringen wie wohl viele der elektronisch basierten Kollegen. Unsere tägliche Seite gibt uns heute und wohl auch noch morgen der Herr des Hauses, und dies auch noch ungeteilt, da die liebsten Kunden der Zeitung, die Werbekunden, als Realisten, die sie sind, auf einer Seite mit derart geringer Lesefrequenz dankenswerterweise keine Anzeigen schalten. Schon aus diesem Grunde fände ich es irritierend, wenn die Kultur aus der Nische fände, denn wenn sich mehr Menschen dafür interessierten, interessierten sich auch mehr Inserenten dafür.
Der Vorteil der Nische ist, man bleibt unter sich. Und das ist zugleich ihr Problem, keines der Quantität, denn die Quoten waren wohl kaum je anderes, sondern ein qualitatives. Die Debatte über die Krise des Feuilletons, also über die Krise der Reflexion von Kultur in den Printmedien, gleicht der über die Qualität der Bäume, wenn der Wald brennt. Selbstverständlich gibt es diese Krise, selbstverständlich langweile ich mich mehr als vor Zeiten beim Verfolgen von Debatten, beim Lesen von Theater- und Filmkritiken, eingeschlossen der von mir verfaßten. Und selbstverständlich ist nicht der Kritiker langweiliger geworden, sondern die Kunst. Und selbstverständlich sind nicht die Künstler unaufregender geworden, sondern die Gesellschaft.
In einer Zeit, da die öffentliche Diskussion um Werte milden Sarkasmus zu stiften pflegt, in einer Zeit, der sich kaum wird nachsagen lassen, sie sei eine der gesellschaftlichen Bewegungen, der geistigen Impulse, der moralischen Diskurse, in einer solchen Zeit also, da der Zeitgeist müde und gelangweilt lächelt, muß Kunst auf die Maßgaben der Ästhetik, der Schönheit, des Handwerks und der Eitelkeiten zusammenschnurren, da sie keine Botschaft hat und auf keinen Widerstand trifft, da sie für nichts steht als für sich selbst. Wir erleben in seltenen Fällen eine Renaissance der alten Spannungen, der ernsten Aufgeregtheiten. Hier in Thüringen etwa, als es um den Richtungsstreit der Europäischen Kulturstadt 1999 ging.
Weimar wurde im November 1993 zur europäischen Kulturstadt 1999 gekürt. Die Thüringer Printmedien befaßten sich über Monate hinweg in Größenordnungen mit dem Sujet, und als Weimar gewann, haben wir gebührend gefeiert. Es waren die Diskussionen und die Feiern einer Nischengesellschaft. Die Bauhausuniversität Weimar unternahm eine soziologische Umfrage, deren Resultate ein Gefühl verifizieren. 13 Prozent, in Worten: dreizehn Prozent der Bürger gaben an, von dem Ereignis Weimar ‘99 1993 gehört zu haben – in dem Jahr also, in dem das Feuilleton sämtlicher regionaler Printmedien sich an dem Thema in jedem Sinne erschöpfend abarbeitete. Es blieben dreizehn Prozent, das ist die objektive Nische. 46 Prozent der Bürger gaben in dieser Umfrage der Fakultät Medien der Bauhaus-Uni zu Protokoll, von dem Ereignis Weimar ‘99 erst 1996 gehört zu haben. Ungefähr die Hälfte der Einwohner also nach drei Jahren, und wir haben nun wirklich jede Sau durchs Kulturstadt-Dorf gepeitscht. Das bedeutet, ein kulturelles Großereignis, ein Event wie es so bald kein anderes geben wird in Thüringen, wurde erst wahrgenommen in Größenordnungen, als es mit außerkünstlerischen Fragen aufgeladen war, als es zum Kristallisationspunkt anderer, jenseits der Kunst liegender Problemstellungen wurde. Auf diese Weise erwarb Kultur schon immer gesellschaftliche Bedeutung, wenn sie sie erwarb; aber diese Verbindung von Kunst und Gesellschaft stellt sich in unserer Zeit nur höchst selten her, und sie ist, denke ich, auch nicht künstlich herstellbar.
Das Bestreben des Feuilletons in den großen Blättern, die klassische Rezensionskultur in den Medien zu ergänzen durch die neuere Debattenkultur, den in der Kompetenz des Feuilletons stehenden tradierten Kulturbegriff also deutlich weiter zu fassen, belegt, als Versuch, in einer strategisch verlorenen Bataille wenigstens einen Geländegewinn zu verbuchen, die abhandengekommene Fähigkeit von Kunst, aus sich heraus Debatten zu stiften. Indessen können diese angezettelten und erfundenen Debatten auch wenig mehr sein als ein Spiegel der debattenmüden Gesellschaft. Aus diesem Grunde war auch das Schreiben über Kunst noch nie, wenn wir die persönlichen Eitelkeiten, Rivalitäten und Empfindsamkeiten aller Beteiligten einmal beiseite lassen, so folgenlos.
Kultur nimmt, in Relation zu ihrer quantitativen und qualitativen Bedeutung in der Gesellschaft in den Printmedien einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Dieser Raum ist nicht ihrer gegenwärtig erworbenen Bedeutung geschuldet, sondern ihrer historisch gewachsenen Tradition und ihrem Ruf, als das intellektuelle Schmuckblatt der Blätter zu gelten, da sie eine kleine, aber den öffentlichen Raum dominierende Zielgruppe hat. Das Stadttheater und das Feuilleton sind ein Luxus, dem seine substantielle Legitimation noch nie so schwer wurde. Das Feuilleton der Printmedien verfügt lediglich über den schätzbaren Vorteil, von den Kollegen der Lokal- und Sportredaktionen mit durchgeschleppt zu werden. Wir sind so etwas wie der Mitesser am Körper der Zeitung. Und irgendwann werden sich die Verleger womöglich fragen, ob sie so etwas tatsächlich mit durchfüttern müssen.

Gekürzte und redigierte Fassung eines Vortrages beim »Thüringer Mediensymposium«