Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 3. April 2006, Heft 7

Familientreffen

von Renate Hoffmann

Eine genehme Arbeits- und Wohnstatt für Thomas Mann zu finden, barg Tücken. Aus dem amerikanischen Exil 1952 zurückgekehrt, lebten Katia und Thomas im helvetischen Erlenbach bei Zürich. Der zur dortigen Unterkunft verhandelte Mietvertrag lief demnächst aus. Bleiben oder nicht? Letzteres. Die Suche beginnt. Unter T. M.s Vorgaben: »schön gelegen, herrschaftlich, geräumig, in der Einteilung praktisch, genügend Bäder, mit Garten.« Von seiner Vorliebe für »Mit-Blick-aufs-Wasser« weiß man ohnehin. Nach Umschau in Herrliberg, Montreux, Lugano vermerkt Thomas Mann am 6. Januar 1954: »K(atia) hat ein Haus in Kilchberg angesehen, das nicht unmöglich ist.«
Im Februar wird es Mannscher Besitz. Und im März bereiten Katia und Erika, die älteste Tochter, den Ortswechsel vor. Derweilen Thomas den familiären Turbulenzen im Zürcher Hotel Waldhaus Dolder aus dem Wege geht. »Meine Frau ist mit dem Umzug beschäftigt …«, schreibt er in einem Brief. Gründonnerstag, um die Mittagszeit, hält T. M. Einzug im Kilchberger Haus, Alte Landstraße 39. Am Abend dieses 15. April notiert er im Tagebuch, Katia und er seien mit den »Nerven ziemlich zu Ende« gewesen. Doch läßt Thomas wissen: »Es (das Gebäude) ist entschieden angenehm und erfreulich, nicht herausfordernd, aber anständig und bequem. Die Kombination meines Arbeitszimmers mit der Bibliothek ausgezeichnet. Die Bücher recht schlecht aufgestellt, … ich habe wieder, wie in Californien, ein eigenes Badezimmer. Bewegend, vor und nach Tische wieder auf meinem Sofa aus Pacific Palisades zu sitzen«.
Das neue Haus erhält – ebenso wie die Unterkünfte zurückliegender Zeiten – seinen zärtlichen Beinamen: Die Kilchi. Thomas Mann spricht von ihm als der »genau richtigen letzten Etablierung«. Sechzehn Monate verbleiben ihm darin …
Feiner Regen fällt. Über Stufen und steile Wege aufwärts zur Alten Landstraße. Kilchberg, eine der kleinsten Gemeinden des Kantons Zürich, schiebt seine Häuser wagemutig den Hang hinauf. Die gesuchte Straße quert ihn und scheint schier endlos zu sein. Nirgendwann werde ich irgendwo ankommen, denke ich – und stehe unvermutet vor dem »herrschaftlich« anmutenden, wohl auch »geräumigen« Anwesen Nummer neununddreißig. Die rostpatinierte Gartentür, obgleich spaltbreit geöffnet, wehrt unbefugtem Eintreten. Auf den Torpfeilern stehen angewilderte Pflanzschalen. Eine Ligusterhecke wächst wohin sie will. »Hier wohnte die Familie Thomas Mann 1954–1994 …« kündet die Tafel. Sie gibt für Thomas, Katia, Erika und Golo die Zeiten ihres Einwohnens an.
Seitlich vom Haus führt ein gepflasterter Weg in den Garten. Hochgewachsenes Buschwerk, Rosen ranken und Glyzinen. Ein Feigenbaum reckt sich. Weitgedehnt liegt unten der Zürichsee. »Der Blick auf den … See und das jenseitige bebaute Hügel-Ufer ist reizend«, meint T. M. Gewiß. Heute jedoch begleitet ihn Melancholie. Das Schwimmbecken, bekannt von einer Photographie, auf der Katia und Golo im Wasser plätschern, steht leer; Gras und Kraut und Algengrün. Die Linde ist noch umfänglicher geworden. Am Haus sind einige Fensterläden geschlossen. Ich gehe den langen Weg zurück. Zur Kirche (Kilche) auf dem Berge, die dem Ort den Namen gab.
Der Friedhof gleicht einem Park; mit edlen Nadelgehölzen bestanden und in üppigem Blumenflor prangend. Die stillen Stätten ziehen den Hang hinab. Der Ruheplatz der »außerordentlichsten Familie der deutschen Literatur« ist umwachsen, verwachsen. Auf dem schmucklosen Grabblock stehen die Namen von Thomas und Katia. In die Erde eingelassen sind die Gedenksteine für vier der sechs Mannschen Kinder. Golos Grab liegt entfernt von den anderen. Der Sohn wünschte es so. Nur Klaus fehlt. Er ist in Cannes beigesetzt. Ich lasse einen Erinnerungskiesel zurück – hic fuit.
Kilchberg hält es sich zur Ehre, neben Conrad Ferdinand Meyer auch die Manns als Mitbewohner gehabt zu haben. Das Ortsmuseum im
C. F. Meyer-Haus besitzt ein Familie-Mann-Zimmer. Ausgestattet mit Schaustücken, Briefen, Manuskriptseiten, Photos und Dokumenten vom Alltag, vom Festefeiern (Thomas’ 80. Geburtstag) und Trauern in Kilchberg. Man erfährt auch, wie die Kinder ihre Eltern sahen. Katia sei »blitzgescheit, schnell von Witz und Verstand«, betont Erika Mann. »Es wäre ohne sie ganz einfach nicht gegangen«, sagt Golo, »er war der tiefere Geist, aber sie war die hellere.«
Die Gemeinde richtet Familie Mann ein Fest aus. Vorrangig gilt es den »Töchtern des Zauberers« Erika, Monika und Elisabeth. SERENADE. Texte dieser drei Frauen vereinte man unter dem Thema Kinderszenen und verquickte sie mit Robert Schumanns Klavierstücken gleichen Namens. So verschieden sie auch sind, die Töchter des Zauberers, eines haben sie gemeinsam – die Gabe genauen Beobachtens. Gleichgültig, ob sie mit Witz den Trubel in Katias Haushaltung schildern, oder in schmerzhaftem Sarkasmus von Kindernöten im Exil berichten.
NOCTURNE. Liebesbrief an die Pfeffermühle. Feuerwerk des Kabaretts. Elogen für Erika Mann (1905-1969). Exkurs: Die Schauspielerin, Journalistin, Buchautorin, politische Publizistin und »weiblicher Eckermann« ihres Vaters gründet im Januar 1933 gemeinsam mit Therese Giehse Die Pfeffermühle. Ein literarisch-politisches Kabarett in München. Im März desselben Jahres emigriert Erika Mann. Sie eröffnet sechs Monate später in Zürich Die Pfeffermühle wieder. Den Namen der erfolgreichen Bühne schlug übrigens Thomas Mann vor. Die doppelbödigen Texte, überwiegend von E. M. stammend, gehen in einem Wirbel aus sehr guten Stimmen, rasantem Spiel und ausgefeilter Interpretation auf. Überrascht nimmt man die Aktualität der Inhalte wahr, die nunmehr über siebzig Jahre alt sind. Wen fröstelt nicht bei Zeilen wie diesen: Kalt ist die Welt, sie macht sich nichts zu wissen, / Von dem und jenem, was es leider gibt. / Gleichgültigkeit, dies kühlste Ruhekissen, / Ist sehr gefragt und allgemein beliebt. Man wird hineingezogen in den raschen Wechsel von feiner Ironie und kaltem Grausen. Lacht mit, leidet mit – so treffsicher sind die Pointen gesetzt. Im Ensemble agieren Studierende und Absolventen der Hochschule Musik und Theater (HMT) Zürich.
In der nächsttägigen MATINEE Über die Meere geleitet ein literarisch-musikalisches Programm in ruhigere Bahnen. Lesungen aus Erika und Klaus Manns Rundherum – Abenteuer einer Weltreise und Beiträgen von Elisabeth Mann Borgese lassen das Fest verklingen.
Einen Abschiedsblick noch auf den Zürichsee, einen zweiten zu den Gipfeln der Voralpen hinüber – und den dritten die Alte Landstraße entlang …