von Erhard Crome
Ein Kommunistisches Manifest wird angekündigt. Nicht das alte von Karl Marx aus Trier und Friedrich Engels aus Barmen, sondern ein neues, für das 21. Jahrhundert, von Heinz Dieterich aus Rotenburg an der Wümme, jetzt Professor in Mexiko Stadt. Eines sei sicher, hat Manfred Wekwerth, bisher bekannt als verständiger Brecht-Kenner und -Interpret, in einem Vorwort zu der deutschen Ausgabe des Werkes geschrieben: »dieses Buch wird auch etwas in Gang setzen. Oder, wie Brecht sagt: Stillstand dialektisieren. Stößt es doch bei uns in eine Situation, in der das Kapital alles versucht, mit der Zauberformel der Alternativlosigkeit die Geschichte anzuhalten. Obwohl der Sieg über den Sozialismus als endgültig verkündet wurde, fürchtet man offenbar den Sozialismus mehr als je zuvor.«
Man teilt Wekwerths Befund zur Lage und greift interessiert zum so gepriesenen Buche.
Ausgangspunkt ist die Feststellung, der »erste Lebenszyklus« der modernen Gesellschaft nähere sich seinem Ende; in den vergangenen zwei Jahrhunderten hätten der menschlichen Gattung zwei Wege der Evolution offengestanden: der industrielle Kapitalismus und der real existierende Sozialismus. Keinem von beiden sei es gelungen, »die drängenden Probleme der Menschheit wie Armut, Hunger, Ausbeutung, Unterdrükkung ökonomischer, sexistischer und rassistischer Natur, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und das Fehlen einer real teilhabenden Demokratie zu lösen«. Hier hätte der aufmerksame Leser sich sicher etwas Differenzierung gewünscht. Fehlende Demokratie und Umweltzerstörung waren gewiß Sargnägel des Realsozialismus. Aber mußten wir in der DDR hungern? War Manfred Wekwerth gezwungen, wegen seiner Armut vor dem Berliner Ensemble zu betteln?
Da wir nun ein Kommunistisches Manifest vor uns haben, wollen wir nicht so beckmesserisch sein; schließlich ist der Realsozialismus ja tatsächlich gescheitert. Und der Einstieg zu einem Text kann ja auch mal etwas grobschlächtig ausfallen. Also: Die Ausgangsannahme ist, die Bourgeoisie, als sie »ihr Historisches Projekt ausformte«, hätte – hier ist im Grunde schon der doppelte Singular fragwürdig: »die Bourgeoisie« und »das Historische Projekt«; aber sei’s drum – dieses auf vier »theoretisch-praktischen Grundpfeilern« ruhen lassen: (1) der auf dem Tauschwert beruhenden Markt- und Bereicherungswirtschaft, (2) der »formalen, repräsentativ-parlamentarischen Demokratie«, (3) »dem der ökonomischen Elite verpflichteten Klassenstaat« und (4) dem »liberalen Besitzbürgertum«. Die vier Punkte geben dann die Struktur der Analyse vor. All dies sei nun zum Ende gekommen, die bürgerliche Gesellschaft wirklich am Ende.
Grundlage der neuen Theorie und Praxis seien zwei neue wissenschaftliche Schulen in Schottland und in Bremen, hier der Polyhistor Arno Peters, die beide begründen würden, eine postkapitalistische, demokratisch bestimmte Ökonomie und direkte Demokratie seien möglich. Daher hocke die Bourgeoisie nunmehr auf einer Zeitbombe. »Wenn diese explodiert, werden die Staatsbürger der Weltgesellschaft die Fesseln der Kapitalverwertungslogik sprengen und sich ihre geraubte Zukunft zurücknehmen.« Da scheint die Kraft des Wortes des alten Kommunistischen Manifestes lebendig. Fazit: »Damit findet der lange gesellschaftliche Übergang aus dem Tierreich sein Ende und die Menschheitsgeschichte kann beginnen.« Aber geht denn die Logik des Satzes auf? Sind wir als »Staatsbürger der Weltgesellschaft« derzeit immer noch im Tierreich? Oder wie? Bei Marx klang so etwas irgendwie schlüssiger.
Die Folgerung Dieterichs lautet: Der Markt und sein Preiskalkül könnten ersetzt werden »durch die demokratisch koordinierte kybernetische Regulation der unmittelbaren Produzenten«. Die »entscheidende Blockade auf dem Entwicklungsweg der historischen sozialistischen Gesellschaft« sei die »Unterentwicklung der kybernetischen Produktivkräfte« gewesen, die nun endlich überwunden sei. Als Kronzeuge dafür fungiert der »Komponist der Nationalhymne der DDR« Hanns Eisler, der hier auf eine Rolle als »musikalischer Mitarbeiter von Bertolt Brecht« reduziert wird. Es kann natürlich sein, daß dies im Jahre 2006 von Mexiko Stadt aus gesehen als Auszeichnung gilt – der historischen Rolle von Eisler wird es gewiß nicht gerecht. Aber immerhin betont Dieterich, daß sich Eisler in den siebziger Jahren in Gesprächen mit dem Dramaturgen Bunge für die »Transzendenz der neuen Entwicklung« ausgesprochen habe. Diese Transzendenz ist in der Tat beeindruckend; nach der bisher gängigen Lesart ist Hanns Eisler am 6. September 1962 gestorben. Hat Manfred Wekwerth das vergessen, oder hat er das belobigte Buch nicht gelesen?
Bedeutsamer noch als solche Fehlgriffe ist der Umstand, daß Dieterich davon ausgeht, die »Entwicklung der neuen Theorie« müsse auch eine ihr entsprechende gesellschaftliche Praxis haben. Das ist die alte, in der Tat auf Marx zurückgehende kommunistische Vorstellung, aus der »richtigen« Wissenschaft könne man auch eine »richtige« Politik ableiten. Die stets alles besserwissende Partei und der unfehlbare Generalsekretär sind die Konsequenz dessen. Insofern ist dieses Buch nicht eines über Sozialismus des 21. Jahrhunderts, sondern eher des 19. Jahrhunderts. Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels ist da dialektischer und gebildeter. Schon die Vorstellung des Titels ist hier aufschlußreich: es sei »der« Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Einen anderen könne es nicht geben.
Vielleicht hat das Ganze ja auch eine biographische Grundierung. Der Waschzettel zum Buch teilt mit, Dieterich hätte während der Studentenbewegung 1968 neben Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit gestanden. Nachdem diese nun zu Bellizisten wurden und Fischer sich als Außenminister dazu verstand, Auschwitz zum Vorwand für die erste deutsche Kriegsbeteiligung nach 1945 zu machen, muß ja ein Gerechter bleiben, der wirkliche und wahrhaftige 68er, das ist nun Dieterich, meint er. Mitgeteilt wird auch, er sei der eigentliche Berater des venezolanischen Präsidenten Chávez. Ich fragte in Caracas Leute aus der Nähe des Präsidenten: Ist Dieterich wirklich der Berater von Chávez? Die Gegenfrage lautete: Wer ist Dieterich? Na, dieser Professor aus Mexiko. Ach so, der, ja, der war mal bei Chávez. Aber Chávez hat nicht den Berater. Er hat nur Leute, mit denen er sich unterhält. Eisler fällt da aus.
Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, Kai Homilius Verlag Berlin, 169 Seiten, 9,90 Euro
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