Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Globaltrottel auf dem Vormarsch

von Helmut Höge

Vor und nach der sogenannten Wende arbeitete ich hin und wieder für die Zeit. Hatte ich zum Beispiel wieder mal eine Sauerei von irgendwelchen Treuhandprivatisierungsmanagern erfahren – von den betroffenen Betriebsräten als den wirklichen (gewählten) VEB-Eignern, hieß es aus Hamburg stets stereotyp: »Sehr interessant, Herr Höge, aber hier im Haus kann das Wort ›Treuhand‹ niemand mehr hören.« Statt dessen bat man mich stets, mich um andere Dinge zu kümmern – zum Beispiel eine Reportage über eine Halensee-Pfarrerin zu schreiben, die eine Billigtelefonier-Initiative für Rentner gestartet hatte, oder einen Bericht über zwei Medienfrauen, die eine Antihundekacke-Initiative am Lietzensee gegründet hatten. »So ein Scheiß!«, dachte ich dann, »aber von irgendwas muß ich ja leben.«
Natürlich wird man von solchen Recherchen nicht dümmer, aber wenn es dann ans Schreiben ging, hatte ich jedesmal eine solche Wut, daß ich den Text mit Schaum vorm Mund in die Maschine hackte. »Sie werden ihn nicht nehmen«, dachte ich, »aber wenigstens habe ich den Auftrag ausgeführt und bekomme vielleicht ein Ausfallhonorar.« Zu meiner großen Überraschung nahmen die Zeit-Redakteure meine Texte jedoch regelmäßig an – und bedankten sich sogar noch dafür.
Erst vor kurzem habe ich erfahren, daß man diese Art von Journalismus »autopoietisch« nennt: ein Begriff, den Humberto Maturana kreierte, um damit sich selbst schaffende und erhaltende Systeme (Lebewesen, aber auch Teilbereiche, unser Gehirn zum Beispiel) zu benennen. In Deutschland wurde dieser Begriff von Niklas Luhmann aufgegriffen. Und von Bielefeld aus gelangte er dann in die Medienforschung, wo er für ein »sich selbst genügendes System« steht: Anders als um 1900, dem Beginn der Zeitung als Massenmedium, gehen die Journalisten nicht mehr »raus«, um Geschichten zu erfahren und aufzuschreiben, sondern sie gehen, wie jeder Festangestellte auch, morgens ins Büro, um die über Nacht aufgelaufenen und bereits nach Ressorts sortierten Tickermeldungen durchzusehen und daraus Artikelvorschläge zu machen. Nach Feierabend wird dann Fernsehen geguckt. Bei meinen zwei Beispielen oben waren es die Initiativfrauen selbst, die eigenhändig die Ticker der Nachrichtenagenturen in Gang gesetzt hatten. Ja, genaugenommen bestand ihre ganze blöde Initiative bloß darin, daß sie die Medien via kna/epd/dpa/afp/reuter/adn et cetera über ihr Vorhaben – heute sagt man auch gerne Projekt, Aktion oder Kampagne – informierten. Das ist Autopoiesis!
Und diese funktioniert homolog zum sich ebenfalls selbst generierenden – wieder ein Idiotenmodewort – Finanzkapital, das auch laufend neue (eigene) Produkte »herstellt« und vertickt, um sich nicht länger auf die scheußliche Welt – in diesem Fall die Produktion, mit Maschinen, Proletariat und wohlmöglich Gewerkschaften – einlassen zu müssen. Zuvor hatte sich bereits die Betriebswirtschaft beziehungsweise das Produktionskapital durch Transnationalisierung von seiner (volkswirtschaft-lichen/nationalen) Welt »emanzipiert«.
Im Kapitalismus um 1900 ging es noch um den »Weltbürger« und um »Welterfahrung«, analog dazu arbeiteten die Kommunisten an einer »Weltrevolution«. Ich erinnere nur an Trotzki: der sich auch noch für den klitzekleinsten Arbeiteraufstand in irgendeinem australischen Bergwerk oder einer chinesischen Provinzstadt interessierte. Heute geht es dagegen um Selbstreferentialität, ein ebenfalls von Luhmann ausgestreuter Begriff, der sich ähnlich wie die Autopoiesis darum dreht, daß man eine Beziehung zu sich selbst herstellt und diese von anderen Beziehungen, zur »Umwelt« etwa, unterscheidet, wobei man letztere nach und nach kappt oder nur noch »sinnvoll nutzt«. In jeder guten Ehe ist das der Fall, aber auch in der Gen- und Gehirnforschung zum Beispiel, wenn man sich die Vorgänge dort klarmacht, indem man sie mit den Mechanismen eines Computers etwa vergleicht und dabei unter anderem von »programmieren« spricht.
Bestenfalls wird dabei der »Modellorganismus« (Maus, Virus oder Bakterie) derart zugerichtet, daß er in der beabsichtigten Weise »funktioniert«. Mit der Erforschung des Lebens (der Welt) hat das jedoch nichts (mehr) zu tun. Eher etwas mit »Darwingrad« – aber so weit sind wir leider noch nicht. Bis dahin kann man allen wirklichen Initiativen nur raten, die Medien wie die Pest zu meiden!