Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 21. November 2005, Heft 24

Ges(ch)ichtsverlust

von Erhard Weinholz

Briefe sind Persönlichkeiten. Welcher Art, hängt nicht nur vom Inhalt ab. Zu einem richtigen Brief gehört der Ortsstempel, der seine Herkunft amtlich beglaubigt: Leipzig BPA 32 oder Dresden A 24 oder 182 Belzig 1. Eilsendungen waren früher sogar die Stationen ihres Weges abzulesen. Einer von ihnen, am 4. 11. 76 um 15 Uhr in Berlin-Lichtenberg aufgegeben, wurde am gleichen Tag um 24 Uhr vom Bahnpostamt 1005 Berlin in Empfang genommen, am nächsten Tag in Potsdam gestempelt und langte am 6. 11. um 7 Uhr in 1825 Wiesenburg an. Zwischenaufenthalte in Büros, wo man sich für den Briefinhalt interessierte, wurden allerdings nicht dokumentiert.
Manchmal boten diese Stempel auch mehr als nur Zeit- und Ortsangaben: Rabenau (Bz. Dresden) Stadt der Sitzmöbel – ein ausladender Sessel ist im großen Stempelrund zu sehen, Berlin N4 Märkisches Museum Die Stätte heimatlicher Kultur – hier ist es Ludwig Hoffmanns Museumsbau. Die detailreichsten und saubersten dieser Stempelabdrucke stammen aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren, als noch vorwiegend von Hand gestempelt wurde. Die späteren, maschinell aufgebrachten, sind oft verschmiert, kaum zu lesen. Ende der siebziger Jahre verloren die Stempel zudem einen Teil ihrer Individualität: Statt Berlin-Adlershof, Berlin 2 oder Berlin 58 hieß es nun einheitlich 10 Berlin. Seit ein paar Jahren schließlich wird auf die Ortsangabe völlig verzichtet und nur die Nummer des Briefzentrums noch genannt. Eilbriefe gibt es ohnehin nicht mehr.

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Bücher haben, wie man weiß, ihre Schicksale. Bei Bibliotheksbüchern war ein Teil davon, der wichtigere zumeist, auf dem Fristenzettel dokumentiert, einem hinten ins Buch geklebten Blättchen, auf dem handschriftlich oder per Stempel der späteste Rückgabetermin vermerkt wurde. In einigen Bibliotheken, der Ost-Berliner Universitätsbibliothek zum Beispiel, stempelte man das Datum auch direkt ins Buch.
Manches Mal habe ich diese Einstempelungen studiert, um den Konjunkturen des Publikumsinteresses nachzuspüren. Carl Hauptmanns Künstlerroman Einhart der Lächler etwa, 1907 erschienen, wurde in der UB bis 1945 mehr als ein einhundert Mal ausgeliehen. Ende der siebziger Jahre war ich der erste oder zweite Leser seitdem. Blochs Prinzip Hoffnung hingegen, die Ausgabe von 1955, fand in der Berliner Stadtbibliothek, vielleicht aufgrund von Nutzungsbeschränkungen, lange Zeit nur einen Leser pro Jahr. Doch in den achtziger Jahren waren es dann immerhin drei bis vier. Und in einem UB-Exemplar von Spenglers Untergang des Abendlandes sah ich als Rückgabedatum eingestempelt: 2. Mai 1945. Bis zum Nachmittag jenes Mittwochs wurde im Berliner Stadtzentrum gekämpft; die UB lag im inneren Verteidigungsring. Ich sah den Spengler-Leser vor mir, wie er, die Tasche unterm Arm, immer wieder in Deckung gehend, zwischen rauchverhangenen Ruinen dahinhuschte, sich an Panzersperren vorbeizwängte, Splittergräben übersprang, um das Buch pünktlich in der Dorotheenstraße abzuliefern.
Damals, in den vierziger Jahren, setzte man noch ordentlich Stempel unter Stempel. In den achtziger Jahren ließ die Stempeldisziplin sehr nach. Irgendwann im folgenden Jahrzehnt wurde die Ausleihe auf EDV umgestellt, und die alte Art des Fristvermerks entfiel.

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Opfer der EDV wurden in der Ost-Berliner UB auch der alte Band- und der etwas neuere alphabetische Zettelkatalog. Oft hatte ich dort einen der nach Leder, Leim und Staub riechenden Folianten aus dem Regal genommen und auf der mit grünem Linoleum bezogenen Ablage durchblättert. Das verfügbare Werk eines Autors war auf den großen Seiten meist unschwer zu überblicken. Die ältesten Eintragungen stammten wohl aus der Zeit um 1900 und waren noch mit der Feder geschrieben. Titel späterer Erwerbungen erschienen in anderen Handschriften. Generationen von Bibliothekaren hatten an diesem Katalog gearbeitet. Ihn zu nutzen, empfand ich als eine Art heiliger Handlung.
Auch die gedruckten Kärtchen des Zettelkatalogs ließen Geschichte erkennen. Denn im Laufe der Jahrzehnte hatten die Schrifttypen mehrmals gewechselt. Im »3. Reich« verwendete man die meiste Zeit eine sehr magere Antiqua, die mit dem seelenlosen Klassizismus der damals gepflegten Malerei und Architektur korrespondierte, mir aber auch das Eingeengte, Unfruchtbare der inländischen Literatur jener Jahre zu versinnbildlichen schien.
Mit der Digitalisierung der Bestandsverzeichnisse verschwand diese Vielfalt; sie wurde, wie üblich, gegen Effektivität getauscht. Allerdings haben es nicht alle Nutzer eilig. Könnte man ihnen nicht erlauben, wieder auf die herkömmliche Weise zu bestellen? In den Müll gesteckt hat man die alten Kataloge ja glücklicherweise nicht.