Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 7. November 2005, Heft 23

Das Böse, einmalig

von Jürgen Große

Der Historikerstreit, der vor zwanzig Jahren begann, war dies im Wortsinne eigentlich nicht. Maßgeblich bestimmt wurde er durch einen Philosophen (Jürgen Habermas), der – wiederum mit zwanzigjähriger Verspätung – Thesen eines Geschichtsdenkers (so Ernst Nolte selbst zum Typ seiner Überlegungen) zur Kenntnis nahm. Nicht so sehr die Ereignisse von Krieg und Diktatur waren strittig, sondern ihre »Deutung«. Die aber war von Philosophen und Publizisten ebenso leicht beziehungsweise schnell zu leisten wie von langjährig eingearbeiteten Historikern. Die Linien der Auseinandersetzung um Methoden – Verstehen als Erklären mit separatem Bewerten oder Verstehen als existentielle Selbstrelativierung – und um übergreifende Interpretamente – Weltbürgerkrieg? Rassismus? Klassenkampf? – wurden rasch dem politintellektuellen Grabenverlauf gemäß begradigt und verfestigt. Dementsprechend sortierten sich in der alten Bundesrepublik – nicht anders als heute in den alten Bundesländern – zwei Lager: Zwischen »Linken« und »Konservativen« spitzte sich der Streit auf die Frage zu, ob zu den Verbrechen der NS-Zeit historische Vergleichsgrößen existierten. Die mannigfachen Dimensionen der Vernichtungsmaschinerie und des Opfer-Täter-Gemenges bündelte man im Wort Auschwitz. »Konsens«, wie man damals sagte, wurde schließlich über die »Einmaligkeit« beziehungsweise über die »Einzigartigkeit« des Mordes an den europäischen Juden hergestellt.
In diesem Topos gingen Arithmetik und Metaphysik eine merkwürdige, doch fortan verbindliche Synthese ein: Man wog den Holocaust in der einen, die übrige Welt- und Zeitgeschichte in der anderen Hand, bis zum Ausrufen von Siegern in der »Opferkonkurrenz«; gönnerhaft gegenüber den Opfern blieb die Geste allemal. Zudem eröffnete der Einmaligkeitstopos ein Feld für tiefsinnige Spekulationen über »das Böse«.
Die »Einmaligkeit« beziehungsweise »Einzigartigkeit des Holocaust« stand auch im Oktober 2005 rasch im Mittelpunkt eines Deutschlandradio-Essays über »das Böse«: Denken nach Auschwitz – Motive der deutschen Philosophie seit 1945. In einer Reihe von Interviews kamen deutsche Universitätsphilosophen der Gegenwart zu Wort, alle bekannten sich zu der Formel. Einer berichtete, er arbeite schon seit Jahren daran, sie theoriefähig zu machen und habe dafür den Terminus »Gattungsbruch« gefunden. Ein anderer teilte mit, er hätte vor kurzem einmal »das, was uns die Geschichte bis zum Jahre 1939 bietet« an Bösem, »Revue passieren lassen« und dann den Vergleich »mit Auschwitz« gezogen: Letzteres sei unfraglich einzigartig, »wir dürfen auf keinen Fall zu harmlos denken von dieser neuen Qualität«. Mahnungen eines wackeren Atlantikers folgten, die rechten Lehren »aus Auschwitz« zu ziehen: Uramerikanische Werte wie Demokratie, Vernunft, Freiheit seien hochzuhalten. Leider hätten manche jüdischen Emigranten es an philosophischer Erkenntlichkeit gegenüber jenem Amerika, das ihnen Schutz bot, fehlen lassen – wollten gar »vom demokratischen Modell nicht lernen«, das sie dort kennenlernen durften: Man denke an die ältere Frankfurter Schule …
Philosophische Deutung von historischen Ereignissen ist in der Regel parasitär. Man erkennt das spezifisch Philosophische der »Deutung« daran, daß sie auf die Alternative »falsch oder trivial« führt. Trivial, wenngleich richtig ist, daß »Auschwitz« historisch einmalig ist – wie jedes historische Geschehen als solches. Die Einmaligkeitsrede muß also semantisch angereichert werden, um nicht trivial zu wirken. Dies leistet die Formel vom Zivilisationsbruch. Wer einen solchen konstatiert, steht selbst augenblicklich im Kontinuum von »Freiheit«, »Vernunft«, »Demokratie«; der Bruch kann angestaunt werden als das Undenkbare, das Staunen wird zum Ausweis tadelloser Gesinnung sowie eines Daseins auf der richtigen Seite von Welt und Geschichte. Dies ist immer die Gegenwart. Ihrer Harmlosigkeit entspricht die Ungeheuerlichkeit des Vergangenen.
Eine frühe Literatur zum Thema – Fühmann im Osten, Walser im Westen – witterte die moralische Selbstgerechtigkeit in dieser Aufteilung, ihre Autoren suchten, biographisch oft noch selbst involviert, mit Erforschung eigener dunkler Anteile und Möglichkeiten gegenzusteuern. Neuere Forscher wiederum (Götz Aly, Harald Welzer) können darauf verweisen, daß die Hitlerherrschaft auf demokratischem Wege eingeleitet wurde und die Völkervernichtung nicht nur dem Mehrheitswillen eines – des deutschen – Volkes entsprach, sondern aus der Mitte der wissenschaftlich-technisch-bürokratisch armierten Zivilisation geleistet wurde.
Fiktion und Historie – zwei Mittel gegen den philosophischen Hochmut. Die hypothetische Selbstbefragung »Ich als Täter« ist für jüngere Generationen schwierig geworden, denn der Zusammenhang von wohlfeiler Gewissenserforschung und handfestem Unschulds- qua Nachgeborenenbewußtsein ist mittlerweile Gemeinplatz. Die Forschungen zur Eingelassenheit des Vernichtungsbetriebs in ein Leben, dessen Standards und Techniken vom heutigen oft nur graduell abweichen, könnten dagegen verstören und verbittern. Die Rede von Auschwitz als dem ganz anderen dieser Zivilisation befreit aus solchen Verlegenheiten.
Das philosophische Denken kommt – wie schon 1985/86 – publizistisch hinterdrein und deutet. Die nationalsozialistische Vernichtungspraxis wird zum Exempel »des Bösen«, ja des »radikal Bösen«, das sich nicht auf seine Herkunft und Strukturbedingungen verrechnen lasse. Zugleich ist das Böse, das die Philosophen in Auschwitz für sich entdeckten, größer als alles Bisherige: Es ist übergroß, ungeheuerlich, radikal, eben einzigartig. Es gleicht einem weltgeschichtlichen Betriebsunfall.

Peter Leusch: Denken nach Auschwitz. Motive der deutschen Philosophie seit 1945 (Deutschlandradio Kultur, 6. Oktober 2005)