Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 24. Oktober 2005, Heft 22

Habemus mamam!

von Horst Jakob

Schade eigentlich: Wir hatten uns hierzulande schon daran gewöhnt, daß uns auch ohne Regierung eigentlich nicht wirklich etwas fehlt. Die deutsche Politik, sagen böse Zungen, wird sowieso vom Bund Deutscher Industrieller gemacht, ergo ist es ziemlich egal, wer unter Dieter Hundt Kanzler ist.
Nun aber hat der kreißende Sondierungsberg jener künftigen Koalitionspartner, die sich vor wenigen Wochen mit ekelschwangerer Wahlkampfstimme gegenseitig noch der Unfähigkeit und Perfidität bezichtigt hatten, gar ein Doppelnovum geboren: Habemus mamam! An der deutschen Regierungsspitze wird also eine Frau stehen, die zudem auch noch eine Ostdeutsche ist: »Wir sind Kanzler!« – Ostdeutschland, nun freue Dich!
Angela Merkel ist unser neues politisches Beratungsmuster, und allemal respektheischend ist ihre Karriere, die aus dem ostdeutschen No-Name die »Big Mother« der christlichen Volkspartei CDU werden ließ. Sie also ist nun willens, den im Gewande versteckten Messern all jener Herren um sie herum zu trotzen, die sich genötigt gesehen haben, auf ihre eigentliche Stunde umständehalber noch etwas zu warten. Nach Berlin jedenfalls kommt man immerhin schon mal. Das Edelste, was die klugen Bevölkerungsteile südlich des Mains hervorgebracht haben, will ja zur Stelle sein, wenn – sagen wir einmal im zweiten Jahr der neuen Legislaturperiode – unversehens ein Kanzleropfer fällig wird, gell?
Wenn man von den Medienleuten absieht, die ihre Existenzberechtigung in der ergebnisoffenen Nachwahlzeit durch die permanente Absonderung schwitziger Aufgeregtheiten in Gazetten und auf Bildschirmen zu beweisen suchten, hat der ganze Zirkus die Öffentlichkeit nur maßvoll interessiert. September und Oktober waren heuer viel zu schöne Herbstmonate, um im Glanze einer milden Sonne Gedanken daran zu verschwenden, über wen man in Kürze ja doch bloß wieder lauthals klagen wird. Die Deutschen, speziell die Berliner, würden es vermutlich nicht mal merken, wenn urplötzlich jemand eine wirklich vernünftige Politik machte; aber letztere Annahme ist denn doch auch gar zu abstrus, als daß sie sich verifizieren ließe.
Wer mit masochistischer Lust all das inhaliert hat, was die Haupt- und Nebendarsteller deutscher Politikschmiere jüngst abgesondert haben, konnte wahrhaft viel Spaß haben. Schröders (wer war das doch gleich?) Kaschperl in der televisionären Runde der Sieger war zugegeben eine singuläre Leistung und hätte locker den Iffland-Ring auf Überlebenszeit verdient. Was das beleidigte Trotzköpfchen Westerwelle (Mit euch spiele ich nie wieder!) und der grüne Temperamentbolzen Bütikofer (Die anderen sind ja so gemein!) von sich gaben, war aber auch nicht von Pappe.
Aber ach, das sind ja auch die Verlierer unter all den Siegern vom 19. September. Sehr viel herzerwärmender ist denn doch, wie sich die besonders siegreichen Sieger, gestern noch Feuer und Wasser, nun entlang der rasch entdeckten »Schnittmengen« ihrer Gemeinsamkeiten kuscheln. Mit der Großen Koalition ist halt zusammengewachsen, was zusammengehört; viel mehr ist eigentlich nicht passiert.