Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Rudi und die Edeldeutschen

von Max Hagebök

In einem wirklichen Sommer saß ich bei Rudi auf der Terrasse. Seine Geschichten und Lebensweisheiten ließ ich träge an mir ablaufen. Es war jene Hitze, die den Fluß der Gedanken auf ein Minimum verzögert. Doch Rudi ließ nicht locker. Sprunghaft brachte er mir seine gelebten Jahrzehnte so nah, das ich reflexhaft in Richtung See schaute und über ein Bad in dem mildkühlen Wasser nachdachte.
Doch bevor ich meinen Körper dazu überreden konnte, endete mein Dozent. Die deutsche Einheit war sein Schlußpunkt. Dabei riß er mich aus meiner lethargischen Haltung. Für Rudi, den Ossi, seien die Wessis die Edeldeutschen. Dieser Begriff elektrisierte mich.
Natürliche Pfade führen aus dem Dickicht einer verschlimmerten Gegenwart. Der Deutsche steht dem Edeldeutschen gegenüber. Einerseits das germanische Urvieh und auf der anderen der domestizierte Kulturbürger. Deutschland trennte also keine Mauer, sondern ein evolutionärer Sprung. Der Ossi hat das natürlich nicht sofort gemerkt. In der freudvollen Aussicht auf die volleren Tröge der Edeldeutschen warf er 1990 alles über Bord, was er an gesunden Reflexen hatte. Völlig nackt lieferte es sich bei den Edeldeutschen ab.
Diese kannten diese Form der naiven und vertrauensvollen Hinwendung schon lange nicht mehr. Denn in ihrer Evolution waren nur die Schwächlichen auf Hilfe angewiesen. Somit begann das Mißverständnis.
Die Ossis stürzten sich in überfüllte Züge gen Westen, um sich ihre hundert Westmark abzuholen. Kleine Kinder wurden nächtens aus den warmen Betten gezerrt und stundenlang auf Fahrt geschickt. Die Wessis fanden sich zu einer karitativen Großtat zusammen und glaubte sich so der biblischen Heimsuchung gewappnet. Kostenlos wurden Bananen, Getränke und Zeitschriften verteilt. Ehrliches Glück stand in den Augen. Die Ossis freuten sich auf den Sozialismus mit Intershop und die Wessis darüber, sich darauf nicht freuen zu müssen.
Nach den ersten freudvollen Stunden wurde die Sache aber kompliziert. Der Edeldeutsche sah seine Aufgabe darin, das Urvieh zu domestizieren. Er begann, dem Ossi einen Anzug zu verpassen. Die Hose zu kurz und die Ärmel zu lang. Darüber erbosten sich die Ossis zunehmend und verlangten passende Gewänder.
Was macht das für einen Eindruck auf den, der glaubt zu spenden? Einen schlechten. Nackt, und dann auch noch eitel und undankbar.
Langsam verbitterte der Edeldeutsche. Der Ossi aber auch.
Wenn zwei das gleiche fühlen, dann können sie sich trennen. Ging aber nicht. Also begann der verbale Rosenkrieg. Stoiber, Schönbohm gaben der gequälten Seele der Edeldeutschen eine Stimme. Nach den vielen Jahren unverständlicher Allüren der Ossis redeten sie Tacheles. Ostalgie, PDS, soziales Miteinander – der Bogen war überspannt. Kein Wessi kann glauben, daß es eine andere Welt neben der seinigen gibt. Dazu die behaupteten Vorteile dieser anderen Galaxis. Das Maß war voll. Gier, Neid und Dummheit waren die niedrigen Triebe der Ossis. Dies auszusprechen, ist der historische Verdienst der vielen klugen Edeldeutschen.
Der Ossi ist nicht zu domestizieren. Er streift durch alle Herrgottsländer, paßt sich an und bleibt doch er selbst. Sein Anzug ist zwar altmodisch, aber er wärmt.
Was bleibt?