Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Land mit drei Buchstaben

von Erhard Weinholz

Er lag in einem ramponierten Schrank, der hinter der Berliner Rathauspassage am Rande des Bürgersteigs stand: ein Kleiderbügel aus grüner Plaste. Ein Bügel in Dreiecksform, doch ohne Spitzen: Bruchlos und mit Schwung geht das Oberteil in die Querstrebe über. Auch ohne jede scharfe Kante. Innen und außen laufen je ein Wulst rundum, geben dem Ganzen Stabilität. Auf der Fläche unter der Halterung des metallenen Hakens erheben sich – jeder soll informiert sein – Buchstaben und Zahlen:
EVP 1,15 M
2249/3
Kowalit
DDR
EVP
war die Abkürzung von Einzelhandelsverkaufspreis. Beim VEB Kowalit Fürstenwalde wurden, glaube ich, vor allem Reifen produziert. Die DDR – das war so ein kleines, rechteckiges Land, zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland gelegen. Ein Land mit allem, was dazugehörte: einer Hauptstadt in der Landesmitte, einer Regierung, Orden und Ehrenzeichen, vielerlei bewaffneten Organen, deren Vertreter meist einen barschen Ton am Leibe hatten, mit Parteien und Massenorganisationen, Zuchthäusern, Traditionskabinetten und Bezirksneuerer-Zentren. Es war, so hieß es, mit der Zukunft im Bunde.
Wenn ich die Tordurchfahrt unseres Hauses passierte, wo sich über rostigen Briefkästen der Latexanstrich in Fetzen von den Wänden löste, ließ ich das alles hinter mir zurück. Dies hier war ein Bezirk für sich: zwar – wie vieles im Lande – von Verfall bedroht, manchmal Druck von oben ausgesetzt, aber ohne »Hurra«-Rufe, fernab von den verordneten Regeln. Hier konnte man Raum finden, ohne sich ums Wohnungsamt zu kümmern. Lutz aus dem Quergebäude hatte mir Bahro geliehen, Thomas aus dem Seitenflügel gegenüber die Fahrradkette geflickt. Morgendliches Zuwinken, Verabredungen herüber und hinüber. Auf dem Hof hatte Julius Luftballons steigen lassen, Signal, daß wir feierten.
Einige Zeit darauf begann die Ordnung im Lande merklicher zu zerbröckeln. Auf den Straßen wurde gegen die Regierung demonstriert, überall debattierte man, wie es mit der DDR weitergehen solle, die Polizei hatte nichts mehr zu sagen. Der Staatschef trat zurück. In den öffentlichen Räumen wurde sein Bild von den Wänden gehängt, und man sah, daß sie lange Zeit nicht tapeziert worden waren. Bald darauf las ich, die DDR, die einen Tag jünger war als ich, werde demnächst verschwinden. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es ohne sie sein würde, aber es ging nicht.