Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Gret Palucca

von Renate Hoffmann

Leicht unterkühlte Sommertage auf der Ostseeinsel Hiddensee. Über das schlanke, langgestreckte Eiland rollt, nunmehr zum neunten Male und freudig empfangen, Terpsichores Wagen. Von Pferden gezogen; vollbeladen mit der Schar aus Tanzeleven – Studierende der Diplomausbildung Bühnentanz – und »Musikanten« – Jens Baermann an der Harmonia; Michael Metzler – Percoussion; Matthias Zeller an der Violine. Die Tanzwoche der Palucca Schule Dresden – Hochschule für Tanz ist eröffnet.
Auf dem Weg von Neuendorf, dem südlichen Ort des Ländchens, bis nach Kloster – im Norden gelegen – wird es angezeigt. Ein bunter, klingender, durch Tanzschritte vorangetriebener Zug, dem immer mehr Schaulustige folgen. Und der davon kündet, daß nun sieben tänzerische Tage angebrochen seien, eingebunden in die herbschöne Landschaft. Auffordernd zum Mitmachen, zum Bestaunen, Bewundern, Bejubeln. Bereichert durch Vorträge und Filme, die von den vielfältigen Aktivitäten der Hochschule ein anschauliches Bild zeichnen. Und vor allem von der Persönlichkeit, der Ausstrahlung ihrer Begründerin. Gret Palucca (1902-1993). Die »Pe«, so nach ihrem Unterschriftskürzel respekt- und liebevoll genannt. »Grand Dame« des Tanzes, des »Neuen Künstlerischen Tanzes« müßte man präzisieren (denn auf Genauigkeit achtete Palucca).
Eine Künstlerin, deren Ansinnen und Bestreben in den wenigen Worten schwingt: »Tanz ist die einzige Sprache, in der ich mich ausdrücken kann.« Von der »Improvisation«, dieser hohen Kunst des unwiederholbaren tänzerischen Augenblicks, sagt sie: »Jede Improvisation ist einmalig … und die Vergänglichkeit ist vielleicht das Schönste daran.« Doch sei es merkwürdig, daß sie Inspirationen »mehr von bildender Kunst, Architektur und Musik, als von Tänzern« erhalten habe. Ihre Erklärung hierfür: »Ich wollte auch geistig weiter.« Der Umgang mit Persönlichkeiten dieser Kreise bringt Palucca großen Zugewinn. Sie lernt von denen, die sie hinwiederum mit ihrer Kunst begeistert. Geben und Nehmen als kreatives Schwungrad.
Bereits 1927 schreibt Rudolf Arnheim in der Weltbühne, die Tänzerin habe »das Wort von der Würde der Kunst anschaulich gemacht«. Da sind Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger, Georg Kolbe unter den vielen Anregern und Lobspendenden. Ernst Ludwig Kirchner malt sie. Zu ihrem Dresdner Bekanntenkreis gehört Oskar Kokoschka. Hermann Henselmann nennt die Menschenfreundlichkeit der »Pe« den »inneren Kern ihrer Persönlichkeit.« Rudolf Wagner-Regeny widmet ihr Kompositionen. Und zu denjenigen, denen sie wirklich zugehört habe, betont sie, zählte auch Bertolt Brecht.
Es nimmt nicht wunder, daß Gret Palucca, aufwartend mit außergewöhnlichen Leistungen in der neuen Tanzkunst – deren Entwicklung sie mitbestimmte – zur geschätzten Pädagogin wird. Paul Dessau schlägt die Brücke: »Die Palucca gehört zu den ganz großen, seltenen Künstlererscheinungen unserer Zeit … Energie, Enthusiasmus und Phantasie zeichnen sie aus. All das überträgt sie auf ihre Schüler, die nicht nur mit den Beinen denken lernen, sondern auch mit dem Kopf …«
Die gewonnenen Erfahrungen setzt sie in der 1925 eingerichteten Palucca Schule Dresden um (im Übungssaal hing damals ein Bild von Piet Mondrian). Was Gret Palucca zur Lehrmeisterin befähigte, könnte man »künstlerische Tugenden« nennen: Disziplin, Genauigkeit, Gestaltungskraft, Phantasie. Sie besaß das Talent zu motivieren; verstand es, Erlebnisbereitschaft zu entwickeln. »Stecke die Erkenntnisse nicht in den Schüler hinein. Laß ihn selbst drauf kommen. Schaffe ihm Erlebnisse«, war ihre Meinung. Sie beförderte die Selbstfindung, ermutigte zur Eigenständigkeit. Nicht ausführendes Instrument solle der Tänzer im Ensemble sein, sondern »streitbarer Mitarbeiter, der durchaus gut und schlecht zu unterscheiden weiß.« Sie stimulierte die Phantasie ihrer Schüler: »Erfindet etwas Neues, Bewegungsabläufe, die noch niemandem eingefallen sind.«
Die Regisseurin Ruth Berghaus, eine der bedeutenden Schülerinnen, sprach von der schöpferischen Unruhe, in die Palucca sie alle versetzt habe und der steten Aufforderung, gegen sich selbst unnachgiebig zu sein.
Die »Pe« sorgte für besonders geeignete Lehrkräfte im Schulbetrieb und bedachte auch die Nachfolge. So berief sie 1979 Hanne Wandtke, die zu den besten Absolventinnen gehörte, aus der Praxis zurück an die Dresdner Schule. Die Professorin unterrichtete im Fach »Improvisation« den Neuen Künstlerischen Tanz. Im Sinne Paluccas: Keine Nachahmer erziehen! »Sie hat uns immer klargemacht«, sagte Frau Wandtke, »daß man als Tänzer nicht nur einen gut funktionierenden Körper zu besitzen hat, sondern ein schöpferischer Künstler ist.« Dazu gehörte – anknüpfend an Paluccas Erkenntnisse – die Beschäftigung mit anderen musischen Fächern. »Sie brachte uns Architektur, Kunst, Musik (und Literatur, d. A.) nahe.«
Hanne Wandtke, in den letzten Jahren bis zu ihrer Emeritierung Prorektorin für künstlerische Praxis an der Dresdner Hochschule, betreute auch – wie in den zurückliegenden Zeiten – die Hiddenseer Tanzwoche. Umgeben von erfahrenen Mitarbeitern. Und von der engagierten jungen Tänzergruppe, die weder Mühe noch Regenschauer scheute, um Schönheit, Zauber, gleichwohl auch Vergänglichkeit der Tanzkunst mitzuteilen. Und um Gret Paluccas Botschaft weiterzugeben: Bewährtes erhalten – dem Neuen aufgetan.