Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 29. August 2005, Heft 18

Durchs wilde Absurdistan

von Jürgen Schaepe

Zehn Tage waren wir in Absurdistan. Eine interessante Reise, ein komisches Land! Hohe Küsten, tiefe Berge, weiße Wälder. Die Hauptstadt Fama am Zusammenfluß von Konfuso und Phantoma sucht in der Welt ihresgleichen, sonderbar, rätselhaft und voller Überraschungen. Und wer den 2125 Meter hohen Gipfel Paralysis besteigt, hat einen wunderbaren Ausblick in die ost-transzendentale Tiefebene. Bis hinunter zum Kaff der guten Hoffnung sind wir gefahren, über allen Landschaften liegt dieser Reiz eines unaufgeräumten Schrottplatzes.
Die Absurdis sind nette Menschen. Sie sehen alle ein wenig uniform aus in ihrer Einheitskleidung, und sie laufen fast alle – seitdem ein führendes Gerüchtemagazin das als modern erklärt hatte – auf den Händen. Man liest, was alle Welt liest, redet, was alle Welt redet und ißt, was ganz Absurdistan ißt – Hammelfleisch mit Heidelbeeren. Jeden Mittwoch feiern die Absurdis das Fest ihres Kulturverlustes. Tanz, Musik und ernsthafte Literatur sind abgeschafft. Höchste Form kulturellen Ausdrucks manifestiert sich in tosendem Beifall für die Obrigkeit.
Die Partei der Radikalen Mitte unter Präsident Perfido ist erfolgreich dabei, Probleme zu schaffen, mit deren Lösung die Absurdis dann für einige Zeit in Atem gehalten werden. Gegenwärtig arbeitet man, da ernsthafte Fragestellungen ohnehin nicht gelöst werden können, an einer landesweiten Gebührenordnung für Kraftfahrzeuge.
Für diese Aufgabe sind exakt einhundert Beamte rekrutiert worden, die in völliger Abgeschiedenheit, doch mit sich und ihrer Aufgabe sehr zufrieden, eine absurde Lösung herbeiführen. Der etwas größenwahnsinnige Präsident ist ziemlich beliebt im Lande. Keiner kann so gediegen nichts sagen wie er, und von jeder Art von Geistesblitzen bleibt Perfido gründlich verschont. Hirnleistungsstörung als politische Notwendigkeit gewissermaßen.
Da Absurdistan ein Land der Überraschungen ist, tut man gut daran, sich etwas mehr Kleingeld einzustecken. Als wir beispielsweise mit dem Zug in den noch etwas wilderen Osten gefahren sind, mußten wir beim Verlassen des Wagens in Perplex-City plötzlich eine Nachgebühr bezahlen. Die verblüffende Begründung war: Wir hätten Gegenwind gehabt. Nicht selten werden im Winter auch Kälte- und im Sommer Wärmezuschläge erhoben, im Geldeintreiben ist man hier extrem erfinderisch.
Wo Absurdistan denn eigentlich liegt? Nicht sehr weit von uns entfernt. Demnächst wollen auch wir diplomatische Beziehungen aufnehmen. Wer weiß, vielleicht können selbst wir das eine oder andere von den Absurdis noch lernen.