Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Die Bosse müssen verrückt sein

von Jürgen Schaepe

Ich bin ein friedfertiger Mensch, gelassen und durch nichts so schnell umzuwerfen. Aber wenn Lebensumstände, langgewohnte und mittlerweile als lieb anerkannte, sich von einem Tag zum anderen ändern, dann wirft mich das doch ganz schön aus der Bahn. Ich rede von den ständigen Preiserniedrigungen.
Was denken sich denn die Rädelsführer von Großunternehmen wie Energieerzeuger und Abwasserzweckverbände dabei, wenn sie jetzt fortwährend ihre Preise senken!? Man verliert doch jeglichen Glauben an die Marktwirtschaft. Psychologisch ein Unding! Wenn sie das wenigstens schrittweise tun würden, wie einst bei den Preiserhöhungen, aber nein, hau ruck und runter in den Keller.
Ich habe mir Kapitalismus immer anders vorgestellt, und nun das! Als ich das letzte Schreiben meines Gaswerkes bekam, blieb mir regelrecht die Spucke weg: »Die Bezugspreise für Erdgas sind an die Heizölpreise gebunden. Die sinkenden Rohölpreise auf dem Weltmarkt wirken sich deshalb auf die Preise für Erdgas aus. Diese Kostenentwicklung zwingt unsere Firma, die Erdgaspreise zum nächsten Monat anzupassen. Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass wir unsere Tarife deshalb um sechzehn Prozent senken müssen …« Sechzehn Prozent, die Bosse müssen verrückt sein! 2,4 Prozent wären ja gegangen, aber gleich so viel, wo bleiben da ökonomische Ausgewogenheit, wo das soziale Gewissen? Da muß der Homo sapiens pecuniensis doch ins Schleudern geraten. Die signifikante Nutzwertigkeit des Geldes ist bei derartig notorischem Preisverfall ja sofort dahin!
Ähnliches bei Wasser, Strom, Abfall und selbst bei den Fernsehgebühren. Gut, bei letzterem kann ich das verstehen, die da oben haben endlich eingesehen, daß das Programm einfach nicht mehr wert ist.
Doch wo bleibt der Mehrwert von Zweckverbänden mit dem Hauptzweck, mehr Wert zu erzielen, wie Verkehrsbetriebe, Versicherungsimperien, Abwassergewinnmaximierern und so weiter? Um beim Verkehr zu bleiben, wenn ich mir früher eine Fahrkarte von A nach B holte, was heißt, holte – teuer erwarb! –, hatte ich immer den Eindruck, ich würde mich in den jeweiligen Aktienfonds des Unternehmens einkaufen und stiller Teilhaber werden. Und nun verschleudern die ihre Tickets sogar zu Spottpreisen.
Kaum hatten wir uns an den Kapitalismus gewöhnt, da irritiert und verspottet der uns mit einer niederträchtigen Fülle von Preissenkungen, es ist nicht zu glauben. Und tut noch so, als wären die schicksalhaft und durch nichts zu beeinflussen. So schnell kann der brave Bürger nicht sein Kauf- und Sparverhalten ändern, da kommt er doch zwangsläufig in finanzielle und mentale Schieflagen.
Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, auch der Kapitalismus hat eben seine Schattenseiten …