Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Der alte Junge

von F.-B. Habel

Vor wenigen Wochen diskutierte Winfried Junge mit dem Publikum des Babylon Berlin (wie das bisherige Berliner Filmkunsthaus jetzt heißt). Er erklärte, dachte nach, wägte ab – und fing plötzlich an zu sprudeln, als er nach seinen Filmplänen gefragt wurde. Der international bekannte Filmemacher gehörte dem ersten Matrikel der nunmehr fünfzigjährigen Babelsberger Filmhochschule an und ist aktiv wie eh.
Das hängt damit zusammen, daß er noch immer an der umfangreichsten Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte arbeitet. Sein Mentor Karl Gass hatte ihn 1961 ins Oderbruch zum Dorf Golzow geschickt, wo Winfried Junge einen Film über die ersten Schultage der ABC-Schützen drehte. Hier knüpfte Junge mit seinem Team in den folgenden Jahren immer wieder mit neuen Filmen an. Die Zuschauer konnten Jürgen, Willy, Elke, Marieluise, Dieter, Jochen, Bernd und viele andere aufwachsen sehen, ihre Entwicklung verfolgen, ihre Ansichten und deren Wandel mit den eigenen Erlebnissen vergleichen.
Ein besonderes Moment kam hinzu, als 1990 für alle, die Macher und die Mitwirkenden, eine einschneidende Veränderung eintrat. Der Staat DDR, der die Langzeitbeobachtung initiiert hatte, ging unter. Manchen Golzower riß er auch mit in ein tiefes Loch, andere fanden im Westen ihr Glück. Winfried Junge hat das alles – seit vielen Jahren gemeinsam mit seiner Frau Barbara – thematisiert und in bisher sechzehn spannenden Filmen auf Leinwand und Bildschirm gebracht. Was das an Kämpfen bedeutete, hat er im vergangenen Jahr in dem Buch Lebensläufe – Die Kinder von Golzow geschildert. Publizistische Arbeit ist dem Regisseur nicht fremd. Weltbühnen-Lesern sind seine Berichte und Porträts in guter Erinnerung.
Im Babylon zeigte der Berliner Film- und Fernsehverband Junges Porträt eines unkonventionellen Lehrers Keine Pause für Löffler von 1974. Ein Pädagogikstudium hatte Winfried Junge selbst begonnen, bevor er zum Film kam. So ist es wohl kein Zufall, daß er zum Thema Schule immer wieder zurückkehrte. Heute sind es schon die Enkel der damaligen Golzower, die ihre Einschulung erleben. Doch wenn Winfried Junge jetzt in alter Frische mit seinen Golzowern vor der Kamera über das Leben redet, ist er noch immer kein alter Junge, sondern ein junger Alter.
Zum 70. wünschen wir ihm genügend Tatkraft, um der Chronik der Golzower aus dem umfangreichen Material noch einige aufschlußreiche Filme hinzuzufügen!