Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Der Affe und wir

von Frank Ufen

Was hat die Evolution des menschlichen Gehirns mit Knollen, Wurzeln und Maden, was hat sie mit der Großmutter-Rolle und der Menopause zu tun? Jede Menge – behauptet der österreichische Wissenschaftsjournalist Peter Weber, und er kann seine Behauptung sogar schlüssig begründen.
Das menschliche Gehirn ist ein merkwürdiges Ding. Es ist übermäßig groß und komplex, ziemlich störungsanfällig, es frißt jede Menge Energie, und es ist eine Maschine mit nahezu unbegrenzten Anwendungsmöglichkeiten. Warum das so ist, wird üblicherweise damit erklärt, daß die frühen Hominiden in einer Umwelt lebten, die an ihr Denkvermögen erhöhte Anforderungen stellte. Weil sie sich darauf verlegt hatten, systematisch Werkzeuge und Waffen herzustellen, und weil sie darauf angewiesen waren, ihr Handeln gemeinsam zu planen und aufeinander abzustimmen, benötigten sie angeblich reichlich technische und soziale Intelligenz – und die Evolution lieferte ihnen prompt ein Gehirn mit der entsprechenden Rechenleistung.
Nach anderen Theorien waren es in erster Linie die zunehmende Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und die dafür erforderlichen Fähigkeiten zur Verständigung, Perspektivenübernahme, Interaktion und Kooperation, die die Evolution des Gehirns vorangetrieben haben. Und wieder andere Theorien betrachten das Gehirn als das Ergebnis eines geistigen Wettrüstens, eines Hobbesschen Kampfes aller gegen alle, bei dem jeder versucht, seine Gegenspieler strategisch zu manipulieren, sie zu täuschen und zu betrügen.
Weber hält keine dieser Theorien für überzeugend. In seinen Augen hat es nämlich wenig Sinn zu fragen, wofür eine Spezies ein größeres Gehirn braucht – denn schließlich würde es jedem Tier nützen, intelligenter zu werden. Entscheidend sei vielmehr ein anderer Umstand: Das Gehirn eines erwachsenen Menschen frißt allein zwanzig Prozent der gesamten Stoffwechselenergie, das eines Neugeborenen sogar 74 Prozent. Also muß es den Frühmenschen irgendwann gelungen sein, sich regelmäßig mit kalorienreicher Nahrung zu versorgen. Nach herkömmlicher Auffassung hat diese Kost entweder aus Aas oder aus dem Fleisch bestanden, das die Männer als Jäger erbeuten konnten.
Etliche Indizien sprechen allerdings gegen diese Auffassung. Zum einen waren die ältesten Hominiden kleinwüchsig und schlecht zu Fuß, und auch mit ihrer Körperkraft war es nicht weit her. Zum anderen verfügten sie weder über genügend Intelligenz noch über schlagkräftige Waffen, um es mit den Raubtieren der Savanne aufnehmen zu können. Weber hält deswegen ein anderes Szenario für viel wahrscheinlicher: Danach sind die Frauen auf die clevere Idee gekommen, nach nährwertreichen Knollen und Wurzeln zu graben. An der Nahrungssuche waren auch die Großmütter beteiligt, wodurch sie es ihren Töchtern ermöglichten, erheblich mehr Energie für den Nachwuchs aufzubringen. So konnte das Gehirn anders als bei allen übrigen Säugetieren noch lange nach der Geburt weiterwachsen, die Intervalle zwischen den Geburten wurden erheblich kürzer als bei den Menschenaffen, und außerdem stieg die Lebenserwartung. Die Großmütter, die sich um ihre Enkelkinder kümmerten, gaben nämlich auch ihre Langlebigkeits-Gene weiter. Und so ist es zu erklären, warum die Menschenfrau fast das einzige Wesen im Tierreich ist, das schon in mittleren Jahren die Fortpflanzung einstellt.
Es fehlen noch die Maden. Maden sind eklig, haben aber etliche Vorzüge: Sie sind völlig keimfrei, sie sind regelrechte Kalorienbomben und liefern noch dazu Kalium, Phosphor und Magnesium. Und im Unterschied zu Fleisch und pflanzlicher Nahrung enthalten sie die mehrfach ungesättigten Fettsäuren in Hülle und Fülle, ohne die das exzessive Wachstum des menschlichen Gehirns niemals hätte in Gang kommen können.
Weber befaßt sich nicht nur mit der Evolution des Gehirns. Er versucht außerdem zu rekonstruieren, wie sich das geistige Leistungsvermögen der Menschengattung Stufe für Stufe herausgebildet hat. Seiner Auffassung nach mußte der Homo habilis zwar noch ohne Sprache auskommen, war aber immerhin im Stande, seine Artgenossen zu imitieren und sie als Wesen zu verstehen, die mit ihren Handlungen Absichten verfolgen. Über die intellektuellen Fähigkeiten des Homo erectus ist sich Weber allerdings unschlüssig. Einerseits rühmt er diesen Hominiden als großen technischen Innovator und Handwerker, als den Begründer der Familie und – womit er die Voraussetzung dafür geschaffen hat, kulturelles Wissen zu tradieren und zu akkumulieren – als den Erfinder der Unterweisung und des Unterrichts. Andererseits behauptet er, daß der Homo erectus weder über eine komplexe Sprache noch über eine Theory of Mind verfügt haben dürfte und in der Gedankenwelt eines vierjährigen Kindes von heute gefangen geblieben sei.
Peter Weber hat die meisten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auf deren Erkenntnisse er sich stützt, selbst interviewt oder sie auf ihren Expeditionen begleitet. Und er hat aus diesen Erkenntnissen eine originelle Synthese hergestellt. Wissenschaftsjournalismus at its best.

Peter F. Weber: Der domestizierte Affe. Die Evolution des menschlichen Gehirns, Walter Verlag Düsseldorf und Zürich 2005, 256 Seiten, 19,90 Euro