Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 18. Juli 2005, Heft 15

Wolfgang Steinitz

von Fritz Klein

Ich weiß, daß ich was leisten werde, und deshalb bleibe ich der Wissenschaft treu«. Der Unbedingtheit, mit der der Achtzehnjährige gegenüber seinem Vater, Rechtsanwalt Kurt Steinitz in Breslau, der seinen Sohn Wolfgang nachdrücklich zu einem Jurastudium drängte, auf seiner Entscheidung für das Studium der Volkskunde und der finnisch-ugrischen Sprachwissenschaft beharrte, blieb er sein Leben lang treu. Gestützt auf intensives Studium des Nachlasses von Wolfgang Steinitz im Archiv der Akademie der Wissenschaften in Berlin, andere Archivalien, Auskünfte von Angehörigen der Steinitzfamilie, nicht zuletzt auf die umfangreichen Niederschriften, die Hans Bunge, Literaturwissenschaftler und Freund der Familie, bei seinem nicht zum Abschluß gelangten Versuch einer Steinitz-Biographie angefertigt hatte, zeichnet Annette Leo ein eindrucksvolles Bild vom Leben eines deutschen Wissenschaftlers in schweren Zeiten. Studium in Berlin, Dissertation zur finnisch-karelischen Volksdichtung 1932, Entlassung als Institutsassistent 1933 wegen »nichtarischer« Herkunft, Professur am Institut für Nordvölker in Leningrad 1934 bis 1937, mehrmonatige Forschungsreise nach Sibirien 1935 zum Studium von Sprache und Kultur der Ostjaken, eines kleinen schriftlosen Volkes, das eine der ältesten finnisch-ugrischen Sprachen spricht, 1937 Ausweisung aus der UdSSR und Übersiedlung nach Schweden, Publikationen über Ostjakische Volksdichtung, einer ostjakischen Chrestomathie und einer Geschichte des finnisch-ugrischen Vokalismus: dürre Daten, hinter denen sich angestrengte, hochspezialisierte wissenschaftliche Arbeit verbirgt, die schwierigsten Bedingungen abgetrotzt wurde. Die primitiven Völker und Sprachen seien in hundert Jahren völlig ausgerottet oder der Kultur assimiliert, begründete er die Wahl des seltenen Faches. »Wir müssen jetzt noch retten und sammeln, was wir können«.
Nicht nur wissenschaftliche Leidenschaft war es, die sein Leben bestimmte, sondern gleichermaßen unbedingt empfundene Aufgabe des Kommunisten zu politischem Einsatz. Abgestoßen von reaktionären Entwicklungen in Finnland und Ungarn, die er auf Studienreisen 1924 und 1925 beobachtete, beeindruckt vom Versuch des Aufbaus einer neuen, gerechteren Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion, die er 1926 besuchte, trat er 1927 in die KPD ein. Er nahm die Mitgliedschaft ernst, übernahm sogleich kleinere Funktionen in der Partei, folgte ihrer Aufforderung zur Teilnahme an der verbotenen Demonstration am 1. Mai 1929, was ihm kurzzeitige Verhaftung einbrachte, beteiligte sich als Flugblattverteiler und Kontaktperson an der illegalen Widerstandsarbeit in Berlin-Dahlem 1933/1934. Politisch aktiv war er in den Jahren der schwedischen Emigration, sei es in der Emigranten-Selbsthilfe, an der Seite Brechts im Schutzverband deutscher Schriftsteller, in der Propaganda für das Nationalkomitee Freies Deutschland. Zentral für die Wendung zum Kommunismus war die Bewunderung für die Sowjetunion. Dem vielbefeindeten Land zur Seite zu stehen, verstand sich für Kommunisten von selbst, was Steinitz veranlaßte, sich dem militärischen Geheimdienst der Sowjetunion Ende der zwanziger Jahre zur Verfügung zu stellen. Seine in Studienreisen gewonnene Vertrautheit mit Nachbarländern wie Finnland, Estland oder Lettland mag das Interesse auf ihn gelenkt haben. Konkretes über Inhalte dieser Kontakte ist nicht bekannt. Die einschlägigen Archive sind der Forschung unzugänglich.
Die Schilderung der vielseitigen Aktivitäten des bedeutenden Gelehrten in Ostdeutschland nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1946 erbringt bemerkenswerte Aufschlüsse zum Wissenschaftssystem der DDR. Weithin bekannt wurde der Name Steinitz durch sein Lehrbuch der russischen Sprache, nach dem eine Generation von Ostdeutschen die in den Schulen der Sowjetischen Besatzungszone als Pflichtfach eingeführte Sprache lernte. Von Anbeginn Professor an der Universität Unter den Linden, leitete er dort das finnisch-ugrische Seminar, verlegte später das Schwergewicht seiner Arbeit auf die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wie die ehemals Preußische, ab 1973 DDR-Akademie damals hieß. 1951 wurde er ihr Mitglied, war 1954 bis 1963 Vizepräsident für Gesellschaftswissenschaften, Direktor des Instituts für Deutsche Volkskunde ab 1951, Leiter der Abteilung Deutsche Sprache der Gegenwart am Institut für Deutsche Sprache und Literatur ab 1952. Er publizierte zahlreiche größere und kleinere Arbeiten zur finno-ugrischen Sprachwissenschaft, wandte sich verstärkt wieder seinem alten Thema, der Volksliedforschung zu, die er durch sein Hauptwerk auf diesem Gebiet, die vielbeachtete zweibändige Sammlung deutscher Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, bereicherte. Nachhaltige Wirkungen gingen von seiner Fähigkeit aus, klug, weitsichtig, unbeirrt durch dogmatische Einengungen, der Wissenschaft neue Wege zu weisen. So etwa auf dem Gebiet der Volkskunde, die er von dem üblen Ruf befreite, in den sie in der NS-Zeit geraten war, indem er sie auf die Grundlage einer modern aufgefaßten Ethnographie stellte.
Bedeutsam war seine Initiative zur Begründung eines Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache wie auch sein Einsatz für die Begründung einer Arbeitsstelle für strukturelle Grammatik, die er gegen konservative Widerstände durchsetzte. Mitarbeiter und Schüler in seinen vielen Wirkungszusammenhängen schätzten seine sachliche Kompetenz, Bescheidenheit und Toleranz, Lauterkeit und Hilfsbereitschaft, die überzeugende Art, zu leiten, ohne zu administrieren, das Bemühen um wissenschaftliche Zusammenarbeit über ideologische und Blockgrenzen hinaus. Es waren solche Eigenschaften, die ihn auf der politischen Seite seiner Lebensbahn zunehmend in Schwierigkeiten brachten. Viele Jahre hindurch der von den Führungen der KPDSU und der KPD vorgegebenen politischen Linie uneingeschränkt vertrauensvoll folgend, trat zunehmende Ernüchterung ein, als er in der DDR in die Lage kam, verantwortlich mitzuarbeiten an der Durchsetzung der Politik seiner Partei in der Wirklichkeit. Es ist beklemmend zu lesen, wie die Autorin aus den Akten des ehemaligen SED-Archivs und des MfS die Situation des Kommunisten Steinitz beschreibt, der 1953 nach dem 17. Juni fordert, die Partei müsse sich der Frage stellen, wie die Kluft zwischen Partei und Volk entstanden sei, der als Mitglied des ZK 1955 auf einer Plenartagung die dogmatische Wissenschaftspolitik und das ignorante Verhalten von Parteifunktionären gegenüber bürgerlichen Forschern scharf angreift und 1956 die Forderung von Studenten nach Beschäftigung mit den Verbrechen Stalins unterstützt. Er gerät in ein Gewebe aus Verdächtigungen und Verleumdungen, wird parteifremder Kaderpolitik und kritischer Äußerungen über die Parteiführung bezichtigt. Funktionäre der Abteilung Wissenschaften des Zentralkomitees der SED greifen die Beschuldigungen auf, das MfS eröffnet einen Überprüfungsvorgang wegen des Verdachts, »staatsgefährdende Propaganda und Hetze« zu betreiben. Es ist ein gespenstischer Vorgang. Drastische Maßnahmen werden nicht ergriffen. Er wird nicht wieder ins ZK gewählt, bleibt aber in seinen Leitungsämtern, reist, international hoch anerkannt, zu Kongressen, ein Parteiverfahren wird nicht eröffnet, das MfS stellt 1964 seinen Vorgang ein, da sich die Anschuldigungen als unbegründet erwiesen hätten. Steinitz aber spürt sich umgeben von Mißtrauen und Feindseligkeit, zieht sich zurück aus jeder direkten politischen Aktivität. Kommunist – Jude – Wissenschaftler untertitelt Annette Leo ihr Buch, hätte aber besser Steinitz’ Eigenschaft als Wissenschaftler an die Spitze gestellt. Wissenschaftler blieb er bis ans Ende seines Lebens, mit dauerhaften, weitwirkenden Ergebnissen. Neue Publikationen sind zu erwarten, mit neuen Erkenntnissen zu dieser vorrangigen Seite seines Lebens. Sein Judentum war dem Nichtgläubigen nicht wichtig. Kommunist war und blieb er, zermürbt aber schließlich in seinem politischen Engagement durch die Partei, deren loyaler Mitstreiter er sein wollte.

Annette Leo: Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler, Metropol Verlag Berlin 2005, 363 Seiten, 19 Euro