Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 18. Juli 2005, Heft 15

Das Musiktheater des Gerd Rienäcker

von Jens Knorr

Vor drei Jahren erschien das erste Buch des 1939 geborenen Berliner Musikwissenschaftlers Gerd Rienäcker Richard Wagner. Nachdenken über sein »Gewebe«, vierzehn Jahre nach Abgabe des Manuskripts, unverändert, als ein historischer Text, in Gelingen und großartigem Mißlingen den Werken Wolfgang Heises und Lothar Kühnes verpflichtet und ebenbürtig, zwei Philosophen, welche die DDR hervorgebracht hat und denen sie ans Leben ging. Das Buch hatte der Deutsche Verlag für Musik Leipzig im Jahr 1983 in Auftrag gegeben; das 1988 abgegebene Manuskript sollte im Frühjahr 1990 gedruckt werden. Verhältnisse, und nichts als Verhältnisse, haben das verhindert. Nicht ganz so lange hat es gebraucht, um fünfundzwanzig neuere Aufsätze, Thesen und Notate Rienäckers zum Musiktheater allgemein verfügbar zu machen.
Gerd Rienäcker lehrte von 1966 bis 1996 am Institut für Musikwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität und nimmt heute Lehraufträge verschiedener Universitäten wahr. Musikwissenschaft lehren – genauer: Musiktheaterwissenschaft – heißt für Rienäcker Forschungsergebnisse einem kritischen Auditorium aussetzen, heißt, Schichtungen akribisch auseinanderlegen, das Zusammensetzen dem mündigen Leser anheimstellend. Daß dabei Noten zu Stücken immer als Noten zu gesellschaftlichen Verhältnissen, und nichts als Verhältnissen, gelesen werden müssen, sowohl denen der Gegenwart des Komponisten als auch und mehr noch der des Analysierenden, daran ließ Rienäcker bereits in den achtziger Jahren keinen Zweifel.
Obwohl zuerst als Handreichungen für die im und am Musiktheater Arbeitenden gedacht, lassen sich Rienäckers Aufsätze darauf nicht reduzieren. Die an eine Äußerung Tucholskys über Ulysses angelehnte, auf Pique Dame gemünzte Bemerkung von dem »Bündel von Brühwürfeln« gilt gleichermaßen für die Texte selbst, mit denen noch viele Suppen zubereitet werden dürften. Der Leser muß sich nur auf jenes produktive Staunen einschwören, das der Lehrer auch in finsteren Zeiten nicht preiszugeben bereit ist, um weiter nachzudenken über Wagners »Gewebe«, über Produktivkraft und -verhältnisse Lortzings, des »Offenbach unter deutschen Verhältnissen«, der Wiener Operette im allgemeinen und Gräfin Mariza im besonderen, des Strauss’schen Spätwerks, des »Phänomens« Maria Callas, über Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Operninszenierens nach Ruth Berghaus, über Waren- und Wertkritik überhaupt – »im Blick zurück nach vorn«.
Der Unsicherheit das Wort geben, geschieht zum anderen aus der Haltung der besiegten Trojaner heraus, die Stückchen in den dreifachen Holztoren geraderückten, als der Fall ihrer Stadt gewiß war, und aus ihrem Handeln begannen Mut zu haben und gute Hoffnung. So unterschiedlich die Themenbereiche auch erscheinen mögen: Die Aufsätze tragen doch Stück für Stück zu einer, Rienäckers persönlicher, Musikgeschichte der DDR bei.
Nicht nur einmal ist der große Georg Knepler aufgerufen, an versteckter Stelle und endlich auch geradeheraus in einer bewegenden Widmung, die Rienäcker seinem Versuch Musiktheater im Zeichen Bertolt Brechts? nachgestellt hat. Wer für »Welt-Verhalten« – im Plural! – votiert, »die sich der Anstrengung des Gedankens und Begriffs, der – wie auch immer mühseligen, schmerzhaften – Erkenntnis nicht verweigern«, dem gehen viele Wege von Brecht und von dessen wandelbarem Theater aus, das bekanntlich Anfänge provoziert, und den führen mancherlei Wege zu Ruth Berghaus und ihrem Theater hin, dessen Zeit kommen wird.
Der Titel der Aufsatzsammlung zeigt das Schlußbild ihrer Inszenierung von Dessaus Lanzelot an der Berliner Staatsoper, ein Bild, das bereits 1969 vorzeichnete, welche Erfahrungen mit dem Sozialismus im Experiment sich noch abzeichnen würden. »Der Rest ist Freude.«

Gerd Rienäcker: Richard Wagner. Nachdenken über sein »Gewebe«. Lukas Verlag Berlin 2001, 385 Seiten, zahlreiche Notenbeispiele, 36 Euro; Musiktheater im Experiment. Fünfundzwanzig Aufsätze, Lukas Verlag Berlin 2004, 283 Seiten, 19,80 Euro