Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 20. Juni 2005, Heft 13

Französisches Signal

von Erhard Crome

Mehr als siebzig Prozent der Wahlberechtigten in Frankreich haben an der Volksabstimmung über die EU-Verfassung teilgenommen; 54,9 Prozent von ihnen stimmten mit »Non«. Das ist kein Desinteresse an Europa, sondern Ausdruck des Willens, dieses EU-Europa so nicht haben zu wollen. Insofern war die hohe Beteiligung nur die Kehrseite der sonst niedrigen Beteiligung an Europa-Wahlen. Und das Ergebnis ist, gerade wegen der hohen Beteiligung, nicht einfach zu ignorieren – löste man derlei Abstimmungsunfälle in der Vergangenheit doch stets so, daß die respektiven Bevölkerungen so oft abzustimmen hatten, bis das Ergebnis paßte. Zumindest bei kleinen Ländern wie Irland machte man das so. Nun hat die große französische Nation mit einer hohen Beteiligung so entschieden. Man wird nicht einfach so tun können, als ginge das Tagesgeschäft wie üblich weiter, und man müsse dann nur die Abstimmung wiederholen.
Vertreter der politischen Kaste in Deutschland beeilten sich, kaum daß die ersten Hochrechnungen aus Frankreich mitgeteilt wurden, dies als eine »Ablehnung Europas« oder Ausdruck einer vor allem innenpolitischen Stimmungslage in Frankreich abzutun. Beides stimmt nicht. Das »Non« kam vor allem von links, und es wurde eindeutig als »nicht antieuropäisch« akzentuiert. Auch speiste es sich nicht aus Unkenntnis. Mehrere Umfragen zeigten, daß die Ablehnung bei denen höher lag, die den Verfassungstext gelesen hatten, und eher die Unbedarften dafür waren. Zudem hatte eine hohe Politisierung stattgefunden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des ausländischen, vor allem deutschen Bejahungstourismus und des hochmütigen Ermahnungswesens deutscher Großintellektueller.
Die Behauptung, die Ablehnung sei vor allem innenpolitisch zu lesen, erweist sich bei näherem Hinsehen als haltlos. 46 Prozent der Befragten einer repräsentativen Telefonumfrage des zweiten französischen Fernsehens am 29. Mai hatten gesagt, der Vertrag verschärft die Arbeitslosigkeit in Frankreich. Da zugleich klar ist, daß die meisten wissen, daß die Kompetenzen für Wirtschaft längst in Brüssel und nicht mehr in Paris liegen, ist dies eben keine innenpolitische, sondern eine auf den Kern der EU-Verfassung richtig bezogene Position. Die Wähler der Niederlande hatten kurz darauf zu 61,6 Prozent ebenfalls mit Nein gestimmt. Eine Blitzumfrage der Bild-Zeitung zeigte dann, daß die Stimmungslage in diesem Deutschland nicht viel anders ist, nur hatten die Herrschenden und ihre Regierer hier von Anfang an deutlich gemacht, daß sie das Volk, den unsicheren Kantonisten, nicht entscheiden lassen wollen. Insofern ist das französischen Nein auch eine Art Stellvertreter für das deutsche, oder anders gesagt: das formal-juristische Ja der deutschen Verfassungsorgane nicht Ausdruck dessen, was die Menschen in der Tat dazu zu sagen gehabt hätten.
Hatte die politische Kaste der EU zunächst gemeint, man werde den »Ratifizierungsprozeß« in den anderen Ländern der Union fortsetzen – und dann würden die Franzosen und die Niederländer schon sehen … – läßt sich diese Position nicht mehr weiter halten. Aus London verlautete, es sei »nicht vernünftig«, das Referendum weiter voranzutreiben. In Polen hatte erst Außenminister Rotfeld verkündet, der Ratifizierungsprozeß solle fortgesetzt werden, und buchstäblich am nächsten Tag hatte dann Präsident Kwasniewski mitgeteilt, er könne sich eine Verschiebung des Termins im Oktober vorstellen.
Die EU-Verfassung ist in ihrem Kern gescheitert. Das gilt für die Militarisierung der EU. Die soll trotz des Debakels fortgesetzt werden; aber sie hat jetzt nicht mehr die höheren Weihen angeblichen Verfassungsauftrages, sondern erweist sich ganz offen als das, was sie ist: ein Komplott der Herrschenden gegen die Lebensgrundlagen der Völker. Der Kampf gegen die Militarisierung fällt jetzt leichter. Das gilt ebenfalls für die einseitig neoliberale Wirtschaftsausrichtung. Bei allem anhaltend verbreiteten Glauben, daß die sozialen Grausamkeiten »notwendig« seien, weil angeblich kein Geld da ist: Ohne Sozialstaatlichkeit ist in Europa keine Wirtschaft zu machen, jedenfalls nicht mit Zustimmung der betroffenen Bevölkerungen. Hinzu kommt: Die großmäulig verkündeten Rechte, die in der Sache ohnehin nicht einklagbar sein sollten, wogen die Nachteile nicht auf. Genau das hatten die Franzosen verstanden und sich dementsprechend entschieden.
Diese Verfassung ist tot. Das haben bei den jüngsten Debatten im Europäischen Parlament die Abgeordneten verschiedener Länder eingeräumt. Die EU wird einen neuen Anlauf nehmen müssen. Der Kampf ist zu führen um eine wirkliche europäische Verfassung, die von Anbeginn die Völker einbezieht. Dafür hat, wie der EU-Abgeordnete Helmuth Markov betont hatte, das Nein Frankreichs den Weg frei gemacht. »Es ist ein Sieg Europas!«
Auf den Europäischen Sozialforen in Paris (2003) und London (2004) war bereits diskutiert worden, einen europäischen Verfassungsprozeß von unten zu initiieren, der von den Menschen ausgeht und ihre politischen, sozialen und kulturellen Rechte zum Ausgangspunkt der Verfassung Europas macht, nicht die Interessen der Großverdiener und der Militärs. In diesem Sinne soll im November dieses Jahres ein Konvent der europäischen Bürger stattfinden. Über die Vorbereitung dessen wird Ende Juni in Paris beraten. Frankreich wurde wieder, wie schon mehrmals in der europäischen Geschichte seit 1789, zu dem Ort, an dem sich das künftige Schicksal des Kontinents seinen Weg bahnt.